Auf Holzlatten in die Vergangenheit - Belle Epoque in Kandersteg

Veröffentlich von René

Winter in Kandersteg

"Früher war alles besser!" - "Nein, war es nicht!"

Bevor ein Streit darüber entfacht, wären Befürworter und Gegner dieses Spruches gut beraten, in die Vergangenheit zu reisen und ihre Thesen selbst zu prüfen. Dazu braucht es nicht einmal einen Delorean von Doc Emmett Brown und man muss auch kein Marty McFly sein, wie im Kultfilm "Zurück in die Zukunft". In diesem Fall reicht sogar ein Sonderzug der Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn (BLS), oder ein alter Schlitten. Damit kommt man nicht nur bis ins Jahr 1955 zurück, sondern sogar noch rund 50 Jahre weiter, bis in die Zeit der "Belle Epoque".

Die Industrialisierung um die Jahrhundertwende eröffnete den Menschen völlig neue Möglichkeiten. Europaweit besonders beliebt waren Pauschalreisen in die Schweiz. Der Ausbau der Eisenbahn war sozusagen "bahnbrechend" für den Tourismus. Noch heute ist die Lötschbergbahn eine wichtige Bahnverbindung ins Wallis. Wer von Norden her anreist, muss mit dem Zug, beziehungsweise Autoverlad, durch den Lötschbergtunnel, wenn man einen langen Umweg via Montreux oder den Furkapass vermeiden möchte.


Kleider machen Leute

Für diese Zeitreise muss man aber noch vor dem Eingang zum Lötschbertunnel, in Kandersteg, im Berner Oberland, aussteigen. Jedes Jahr, Ende Januar, findet man sich dort in der Belle Epoque wieder. Daher sollte man seinen Kleidungsstil gut bedenken und gegebenenfalls auf Uromas alte Mottenkiste zurückgreifen, wenn man nicht auffallen möchte wie ein Zeitreisender aus der Zukunft. Wer keine alte Klamottenkiste besitzt, der kauft sich extra zeitgemäße Kleidung, oder lässt sie sich sogar extra schneidern. Herren mit Anzug und Zylinder, Damen mit weiten Röcken und pompösen Hüten. Wer hingegen völlig überraschend in diese Situation hineingeraten ist, der huscht schnell in den "Belle Epoque Kleiderverleih" im Dorf. Ausreden für unpassende Kleidung gibt es also nicht.

 ©Tourismus Adelboden-Lenk-Kandersteg / Phil Wenger

Nun, da alle angemessen kostümiert sind, können wir uns endlich in die "Belle Epoque Woche" in Kandersteg stürzen. Nicht nur die Menschen kleiden sich wie zur Jahrhundertwende, sogar die Häuserfassaden Kanderstegs werden extra umgestaltet, um die Illusion der Zeitreise perfekt zu machen. Während der ganzen Woche gibt es genügend zu erleben: Nostalgische Volks- und Jazz-Livemusik und Tanz, Tanzkurse, Ausstellungen, Workshops, Eisstockschießen, Schlittschuhlaufen, Gastronomie, Schattentheater, Jassturniere und im Zentrum des ganzen, im Hotel Belle Epoque, täglich englische Afternoon Teas, wie damals für die britischen Touristen. Den krönenden Abschluss bildet ebenfalls dort die große Dinner-Gala mit "Tanzen bis nach Mitternacht".


Vom Ski bis auf die Toilette: Holz ist Pflicht

Das eigentliche Highlight: Skifahren und Rodeln wie vor 100 Jahren. Natürlich mit nostalgischen Ski, Schlitten und Ausrüstung. Erstmals in diesem Jahr gab es einen nationalen Ski-Cup. Aus der ganzen Schweiz kamen Skifahrer, um sich in verschiedenen Disziplinen zu messen. Wie es sich für einen Wettbewerb (besonders in der Schweiz) gehört, ist natürlich alles streng reglementiert. Wer mit modernen Ski im Retro-Look anreist, kann gleich wieder abreisen. Ski aus Holz sind Pflicht. Wie schwer es sein muss, auf alten Holzskiern zu fahren, lässt sich erahnen, wenn man die Abschiedsabfahrt der Schweizer Skilegende Didier Cuche im Jahr 2012 gesehen hat. Mit alten Holzskiern und passendem Nostalgie-Outfit fuhr er die Riesenslalom-Piste von Schladming hinab. Welche Mühe er auf den alten Holzlatten hatte, war unübersehbar. Ein Outfit wie Didier Cuche hatte, ist zwar keine Pflicht in Kandersteg, bietet aber den Vorteil, Extrapunkte zu kassieren. Eine Jury prämiert nämlich das beste Outfit. Ansonsten zählen nur die Abfahrtszeiten, oder beim großen Showfahren allein die Haltungsnoten. Ebenfalls ein großes Highlight der Vergangenheit war das Bobrennen. Eine professionelle Bobbahn, wie man sie heute kennt, ist dazu nicht nötig. Die Bahn wird einfach mit Schnee vom Waldhang ins Dorf hinein aufgeschüttet und präpariert. Zu zweit, zu dritt, oder zu viert stürzen sich die wagemutigen Bobpiloten auf ihren hundertjährigen Holzbobs mit Holzlenkrädern die Bahn hinunter - ohne Helm. Höchstens eine Wollmütze oder einen Filzhut gegen die Kälte auf dem Kopf. Hutträger fahren entsprechend langsamer, damit der Hut nicht fliegen geht. Außerdem beißt der kalte Fahrtwind recht arg an den blanken Ohren.

 ©Tourismus Adelboden-Lenk-Kandersteg / Phil Wenger

Bis ins kleinste Detail (...mit Ausnahmen)

In jedem Bereich der Belle Epoque Woche legt man größten Wert auf Detailgenauigkeit. Selbst die notwendigen mobilen Toiletten sind aus Holz. Trödelstände und Antiquitätenhändler bieten allen die Möglichkeit, ihre Details auszuarbeiten und hier und da noch ein hübsches Accessoir zu erwerben. So manches Detail aus der Gegenwart ist allerdings unverzichtbar geworden und fällt unweigerlich auf: Eine Mobiltoilette mag man zwar aus Holz bauen können, aber sich als Brillenträger extra für dieses Event eine neue, stilechte Brille anfertigen zu lassen, ginge für die meisten Teilnehmer wohl zu weit. Dass die Eröffnungsrede nicht in ein modernes Mikrofon gesprochen wird, wäre sicher noch im Rahmen des Möglichen, dass der Leierkastenmann kein Äffchen auf der Schulter hat, ist hingegen zu verzeihen. Tierschutz muss sein und bei der Kälte hätte so ein Leierkastenäffchen selbst im dicksten Pelzmäntelchen wohl wenig Freude.

Was aber umso mehr erfreut, ist die Tatsache, dass die allermeisten Teilnehmer der Versuchung widerstehen können, ihr Smartphone herauszuholen, um Fotos und Videos zu machen, oder um Nachrichten zu versenden. Alle sind ganz bei der Sache und erleben gemeinsam ein geniales Fest, anstatt es, wie heutzutage bei Konzerten schon fast üblich, nur durch ein Display zu sehen und so kaum noch ein Teil des Events werden zu können. Diese Menschen geben dem Fest einen Charakter. Diese Menschen, die zwar nicht an der Organisierung beteiligt waren, aber mit Herz und Seele teilnehmen, ohne aus der Rolle zu fallen.

Zum Abschluss noch eine gute Nachricht für diejenigen, die Schnee und Kälte lieber meiden: Im Sommer findet auch eine Belle Epoque Woche in Kandersteg statt. Anstelle von Holzskiern und Schlitten benötigen Sie dort lediglich einen nostalgischen Badeanzug. Der gilt auch für die Herren! Geringelt natürlich.


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