Die Rückkehr des Wolfs - Fluch oder Segen?
Über 100 Jahre war er verschwunden – nun ist er wieder da. Genauer: seit 1995. Die Rückkehr des Wolfs und dessen Ausbreitung in den Wäldern der Schweiz erfreut unter anderem Tierschützer, doch es gibt auch Schattenseiten. Hirten und Schäfer fürchten um ihre Herden und mancherorts scheint er inzwischen sogar die Scheu vor dem Menschen zu verlieren. Das Thema Wolfsschutz beziehungsweise Herdenschutz polarisiert die Schweizer Bevölkerung. 2020 entschieden sich die Eidgenossen bei einem Volksentscheid für den Wolfsschutz. 2023 rudern sie – wenn auch nicht per Volksentscheid, dafür aber politisch – zurück.
Der Wolf und seine Geschichte
Der Wolf war einst in ganz Europa weit verbreitet. Auch in der Schweiz, insbesondere in den Alpen und im Jura, wo er sich auch am längsten hielt. Im Mittelland verschwand der Wolf bereits im 17. Jahrhundert und 1871 wurde offiziell die letzte Population vom Menschen ausgelöscht. Die Rückkehr der Wölfe wurde möglich, nachdem sie in Italien 1971 unter Schutz gestellt wurden. Die Tiere wandern teilweise mehrere hundert Kilometer auf der Suche nach Lebenspartnern. So wanderten sie 1995 - zunachst nur vereinzelt - wieder in die Schweiz ein. Eine erste erfolgreiche Paarung und Rudelbildung konnte erst 2012 am Calanda in Graubünden bestätigt werden. 2023 wurden bereits 313 Wölfe in der Schweiz nachgewiesen. Die Zahl der Rudel hat sich somit binnen vier Jahren auf rund 35 mehr als verdreifacht. Knappe 1000 Nutztiere wurden allein im Jahr 2023 von Wölfen gerissen.
Seit 1979 ist der Wolf durch die Berner Konvention als bedrohte Art gelistet und als «streng geschützt» eingestuft. Was bedeutet diese Einordnung?
Die Einordnung bestimmt zunächst, welche Handlungen mit oder gegenüber wildlebenden Tieren oder Pflanzen sowie ihrem Lebensraum erlaubt oder nicht erlaubt sind. Für «streng geschützte» und «besonders geschützte» Arten gilt gleichermaßen ein Tötungs-, Verletzungs- und Entnahmeverbot. Die Tiere (und Pflanzen) dürfen gemäß dieser Zugriffsverbote nicht getötet, geschädigt oder aus ihrer natürlichen Umgebung entnommen werden. Für streng geschützte Arten gilt zudem ein Störungsverbot. Dieses umfasst, dass Individuen in ihrem natürlichen Lebensraum und Verhalten während Fortpflanzung, Aufzucht, Mauser, Überwinterung und Wanderung nicht in einem Ausmaße gestört werden dürfen, dass es sich negativ auf die Entwicklung der Art oder Population auswirkt. Wird zum Beispiel ein geschützter Vogel bei der Balz oder der Brutpflege gestört, sodass er sein Nest verlässt und die Eier infolgedessen von Räubern entnommen werden, wäre dies ein Bruch der Artenschutzbestimmungen. All diese Vorgaben gelten auch für erkennbare Teile eines Tieres, toter Tiere sowie der Erzeugnisse geschützter Arten.
Neuerungen in den Schutzbestimmungen
Für den Wolfsschutz entschied sich nicht nur die Berner Konvention, sondern auch die Eidgenossenschaft. Im Herbst 2020 wurde bei einem Volksentscheid eine Revision des Jagdgesetzes nur knapp abgelehnt. Für 51,9% stand fest: Der Wolfsschutz soll nicht gelockert werden. Angesichts der stark gestiegenen Wolfsbestände und Nutztierrisse entschied der Bundesrat 2023 jedoch neu und ohne Volksentscheid. Die folgenden Bestimmungen traten in Kraft:
- Der Mindestbestand der Wölfe in der Schweiz wird auf zwölf Rudel festgelegt.
- In jedem der fünf festgelegten Kompartimente der Schweiz ist Platz für zwei bis drei Wolfsrudel.
- Vom 1. September bis zum 31. Januar dürfen ganze Rudel präventiv «entnommen» werden, sofern der Mindestbestand nicht unterschritten wird. Hierfür muss unerwünschtes Verhalten vorliegen, wie etwa die Überwindung von Herdenschutzmaßnahmen oder ein Angriff auf Nutztiere.
- Präventiv reguliert werden dürfen auch unauffällige Rudel – das ist die sogenannte «Basisregulierung». Hierbei werden bis zu zwei Drittel der in einem Rudel geborenen Jungtiere geschossen, sofern es in dem Gebiet mehr als ein Rudel gibt.
So soll die Ausbreitung des Wolfes vorzeitig gemindert werden. Zudem kürzte der Bund das Budget für Herdenschutzmaßnahmen. Das «BAFU» (Bundesamt für Umwelt) beteiligt sich nur noch mit maximal 50% an den Kosten für Herdenschutzmaßnahmen – eine Senkung um 30 Prozent. Auch die Ausbildung von Herdenschutzhunden wurde an die Kantone abgegeben.
Verschiedene Stimmen: Landwirte und Naturschützer
Die neuen Maßnahmen spalten die Eidgenossenschaft. Tierschutzorganisationen und Umweltverbände kritisieren die Revision des Jagdschutzgesetzes. Die Politik verteidigt ihre Entscheidung, Schafzüchter begrüßen sie.
Für die Hirten bzw. ihre Tiere sind die Wölfe wie Todesengel. Die Tiere werden traditionell jeden Sommer auf die Alpen getrieben – dort lauert bereits die Gefahr. Aus verschiedenen Gründen kann es passieren, dass Wölfe sich besonders leichte Beute suchen. Schafe auf der Alp kommen da gelegen. In der Dämmerung und nachts werden die Großräuber aktiv. Machen sie Jagd auf Zuchttiere, sterben oftmals nicht nur eins, sondern gleich mehrere Tiere. Der Anblick am nächsten Morgen ist mehr als grauenvoll – blutige Wolle, umliegende Gedärme und im Sterben liegende Tiere. Ein Riss ist nicht nur ein wirtschaftlicher Schaden für den Hirten, sondern auch eine emotionale Belastung. Der Herdenschutz ist teuer und aufwendig. Durch das revidierte Jagdgesetz fallen Teile der Förderung weg. Auch die Ausbildung von Hütehunden ist kostenintensiv und langwierig. Die Wolfrisse schädigen die Wettbewerbsfähigkeit der Hirten und gefährden ihre Lebensgrundlage. Einige Stimmen, wie Georges Schnydrig, der Co-Präsident des «Vereins Schweiz zum Schutz der ländlichen Lebensräume vor Grossraubtieren», sehen im Wolf eine Gefahr für Nutztiere, Landwirtschaft und den Menschen. Er plädiert für eine Nulltoleranz gegenüber Wölfen in Siedlungsgebieten, Vorranggebiete für die Nutztierhaltung und für die Legalisierung von Verteidigungsabschüssen bei unmittelbaren Wolfsangriffen.


Naturschützer kritisieren die Entscheidung des Bundesrates. Die Eingriffe in die Wolfspopulation seien zu groß, denn der Wolf sei ein wichtiger Teil des Ökosystems und trage zu dessen Gleichgewicht bei. Willy Geiger, Biologe und ehemaliger Vizepräsident des Bundesamts für Umwelt kritisiert die aktuellen Maßnahmen. Die Hauptpunkte der Kritik von Naturschützern: Die Maßnahmen seien fernab wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Entnahme ganzer Rudel sei nicht zielführend. Territoriale Lücken förderten umliegende Rudel, denn ein größeres Revier regt zu weiterer Fortpflanzung an. Alternativ wandern junge Einzelgänger neu in die freigewordenen Reviere der Schweiz ein. Diese sind oftmals besonders gefährlich für Zuchttiere. Als Einzelgänger Wildtiere zu jagen ist aufwändig und kraftraubend. Zuchttiere sind energieschonender zu reißen und oftmals ertragreicher. Auch die Praxis hinter den Abschüssen wird kritisiert. Die Entnahme wichtiger Tiere aus einem Rudel kann zur Desorientierung oder zur Auflösung des Rudels führen. Erneut besteht die Problematik vermehrt rissfreudiger Einzelgängertiere. Besonders betont wird von Tierschützern, dass der Wolf dennoch keine Gefahr für Menschen darstelle. Er sei vom Wesen her scheu und meide den Meschen in der Regel. In Einzelfällen kann er diese Scheu allerdings auch verlieren. Anfang Mai 2025 erließ der Kanton Schwyz beispielsweise eine sofortige Abschussverfügung gegen einen Wolf, der sich in Siedlungsgebieten aufhielt und keine Scheu vor Menschen zeigte. Im Wallis wurden bereits in der ersten Woche nach dem Bundesratsbeschluss vom 1. Dezember 2023 mehr als zehn Wölfe geschossen. Inzwischen wurde sogar bekannt, dass seither jeder zweite erlegte Wolf nicht zu den zugewiesenen Rudeln gehörte und somit deren Abschüsse illegal waren. Zudem seien die Maßnahmen unverhältnismäßig und mehr Wahlkampf als alles andere gewesen. In den letzten Jahren stieg die Anzahl der Wölfe in der Schweiz weiter an, während die Zahl der Risse rückläufig ist. Laut Tierschützern lasse sich dies auf den gestiegenen Herdenschutz zurückführen.
Die Argumente sind zahlreich und oft emotional. Beide Positionen verfallen in Schwarz-Weiß-Muster - entweder gegen den Wolf oder gegen die Landwirte. Doch solche gegenseitigen Anfeindungen sind laut Experten nicht zielführend. Der Wolf ist gekommen, um zu bleiben. Die Schweizer müssen einen Weg finden, mit den Großräubern umzugehen. Die Bevölkerung ist gespalten, ein Mittelweg scheint noch nicht gefunden.