„Gang doch e chli der Aare naa… dere schöne, grüene Aare naa!“
2.2.22 - Gestern starb Andreas Flückiger, alias Endo Anaconda, Poet und Sänger der Schweizer Mundart-Band Stiller Has, viel zu früh und mehr oder weniger völlig unerwartet. Endo war bekannt für seine scharfsinnig bissigen Texte, die vor Ironie und Sarkasmus geradezu triefen und rotzfrech mit Worten spielen, dass es einen vor Lachen vom Hocker reißt und oft in der nächsten Sekunde das Lachen zurück in den Hals stopft, wo es schließlich stecken bleibt. Endos vollverbleite Texte haben Schwergewicht. Sie unbedacht hinunterzuschlingen wäre töricht. Jetzt läuft im Andenken an Endo Anaconda der Stiller Has Hit von 1995 - „Aare“ - im Schweizer Radio.
Ich schenke mir also noch ein Gläsli Roten ein und lehne mich zurück in meinen knarrenden Küchenstuhl. Aber schon beim Intro des Liedes sitze ich auf einem nicht viel bequemeren Bänkli unter einem grünen Baum an der Aare, irgendwo zwischen Thun und Bern im Sommer. Ein mal im Jahr muss ich an der Aare sitzen und einfach nichts weiter tun, als zu beobachten, was mit der Strömung an mir vorbeizieht. Wenn auch nur für eine halbe Stunde. Im letzten Sommer hat die Aare selbst mich daran gehindert. Am Tag meiner Rückreise aus dem Wallis, wo ich für gewöhnlich in Thun oder Bern ein paar Stunden verweile, führte die Aare Hochwasser. Der Thunersee trat über die Ufer, die Matte unterhalb der Berner Altstadt war mit Hochwassersperren verbarrikadiert und die Feuerwehren ließen über das Radio bitten, die Innenstädte weiträumig zu umfahren. Glücklicherweise verlief das Hochwasser nicht so dramatisch, wie das vom August 2005. Nach schweren Unwettern führte die Aare mehr als vier mal so viel Wasser, wie im normalen Durchschnitt. Murgänge und Flutwellen mit Treibholz zerstörten ganze Ortsteile. Der Schaden wurde allein im Kanton Bern mit 1,2 Milliarden Franken beziffert. So schnell wird aus einem geliebten Ausflugsziel ein naturgewaltiges Monster, das urplötzlich den selbst gespendeten Lebensraum und damit verbundene Existenzen zerstört. Ein Ying und Yang, wenn man so will. Man sucht die Nähe der Aare, aber gleichzeitig versucht man, sich vor ihr zu schützen.
Während das ruhige Geklimper des Liedes im Radio mich ans sommerliche Ufergras im Aaretal verpflanzt, durchbricht Endo Anacondas rauchig geteerte Stimme das Träumli wie eine Flutwelle.
„Geh doch ein bisschen der Aare nach
Dieser schönen, schönen, schönen, grünen Aare nach
Dieser Aare nach“
Zu Befehl, Herr Flückiger! ...Auch wenn es etwas an Mamas „Geh‘ doch mal was an die frische Luft“ erinnert. Warum soll ich denn gleich an die Aare? Was macht die Aare denn so besonders, dass sie sogar ein Lied von Endo Anaconda wert ist? Da muss mehr dran sein, als eine Marketingkampagne für irgendeinen Touristenverein. Zugegeben, die Aare ist mit ihren rund 290 Kilometern ziemlich lang und man begnügt sich in der Regel halt mit dem Abschnitt, an den man gerade gerät. Dann muss ich dem längsten, vollständig in der Schweiz liegenden Fluss, wohl besser in voller Länge nachgehen. Also, hoch vom Bänkli im Grünen und auf, in die Berner Alpen zu den vier Aargletschern.
Die Schmelzwasser aus Oberaar-, Unteraar-, Lauteraar- und Finsteraargletscher treffen sich hier aus über 2400m Höhe im 500m tieferliegenden Grimselsee. Wenn man im Sommer über den Grimselpass aus dem walliser Obergoms ins Berner Oberland fährt, oder umgekehrt, lohnt sich hier unbedingt ein Zwischenstopp in dieser felsigen Hochgebirgslandschaft inmitten von 3000er Gipfeln. Noch bevor aus dem Gletscherwasser ein richtiger Fluss wird, macht der Mensch sich dessen Kraft schon zu Nutze. An der 114m hohen Staumauer des Grimselsees betreibt das Wasserkraftwerk Oberhasli ein Pumpspeicherwerk. Auf dem Weg hinunter ins Haslital nutzt man die Kraft des Wassers, um Strom zu erzeugen und zu speichern.
Im Haslital passiert die Aare zunächst Guttannen. Beim Unwetter 2005 verschüttete ein Murgang die Kantonsstraße bei Guttannen und die Aare. Mit über einer halben Million Kubmikmetern Geröllmasse war er der Größte, den man bis dahin jemals in der Schweiz verzeichnete. Die Aare ließ sich davon aber nicht aufhalten und suchte sich einen neuen Weg – mitten durch das Dorf. Jahrhunderte lang bietet die Aare dem Dorf eine Lebensgrundlage und in wenigen Augenblicken nimmt sie diese wieder. Wenn man hier lebt, muss man sich der Gefahr bewusst sein und versuchen, sich bestmöglich davor zu schützen. Ich ziehe lieber weiter.
Vorbei an Innertkirchen geht es Richtung Meiringen. Die ersten Anzeichen der Anziehungskraft der Aare machen sich bemerkbar. Touristen. Man erkennt sie an hochgehaltenen Handys, Selfiesticks, oder der Landschaft schlecht angepasstem Schuhwerk. In der 1,4 Kilometer langen Aareschlucht findet man davon immer welche. 45 Minuten dauert die Wanderung durch die Schlucht ungefähr, wenn man gut durchkommt. Auch an heißen Sommertagen ist es hier angenehm kühl. Bis zu 200 Meter tief hat sich die Aare ihren Weg in den Kalkstein gefressen. Stellenweise ist die Schlucht nur ein bis zwei Meter breit. Der Fußweg hindurch führt über Kies, Asphalt, schmale Holzstege in der Felswand und auch Tunnel. Mal plätschert das türkisgraue Gletscherwasser ruhig vor sich hin, mal donnert es durch enge Passagen. Bei Regen, wenn die Aare mehr Wasser führt, rumpelt es noch spektakulärer.



Hinter der Aareschlucht liegt Meiringen. Um im breiteren Teil des Haslitals mehr Fläche für die Landwirtschaft und einen Militärflugplatz zu schaffen, wurde die Aare hier begradigt. Jetzt donnern hier Kampfjets der Schweizer Luftwaffe durch das Tal, anstatt der Aare. Oft zum Leidwesen der Touristen und Hoteliers in den Hotels und Ferienchalets am Hasliberg und am Tschingel. Etwa zehn Kilometer hinter Meiringen speist die Aare den Brienzersee und bietet völlig neue wirtschaftliche Perspektiven. Direkt an der Mündung in den See wird Kies abgebaggert, wovon die Aare jährlich etwa 135.000 Kubikmeter aus den Bergen mitbringt. Rund um den See hübsche Postkartendörfer und Ferienchalets, auf dem See Dampfschiffe, Fähren, Fischer und Wassersportler. Hinter dem See: Interlaken. Internationales Touristendrehkreuz auf dem Weg durchs Lauterbrunnental zur kleinen Scheidegg, zum Eiger und zum Jungfraujoch. Doch schon nach fünf Kilometern durch die touristische Besatzungszone hinter dem Brienzerseeufer wartet das rettende Ufer des Thunersees. Man muss dazu nur der Aare folgen. Dieser schönen, schönen grünen Aare nach.
Um den Thunersee herum nicht weniger Beschaulichkeit. Welche Seeseite man auf dem Weg nach Thun wählt, ist schwer zu entscheiden. Am besten auslosen, oder eine Extrarunde drehen. Beide Seiten haben ihre Vorzüge. Auf der Südseite Faulensee und Spiez, auf der anderen Seite die St. Beatus-Höhlen, die Festung Waldbrand bei der Beatenbucht und die berühmte Aussicht auf den Niesen. Man könnte auch per Schiff im Zickzack über den See setzen, denn fast alle Ortschaften am See sind durch Fähren miteinander vernetzt. So sieht man mehr von den ganzen Booten und Anglern. Über 30 heimische Fischarten leben im Thunersee. Der Thunfisch gehört natürlich nicht dazu.
„Die Wellenreiter reiten Wellen auf den Aarewellen
Geh doch ein bisschen der Aare nach
Dieser schönen, schönen, grünen Aare nach
Dieser Aare nach
Von Bern nach Thun, von Thun nach Bern, der Aare nach“
Ab Thun zeigt sich die Aare eigentlich erst in ihrer vollen Schönheit. Die Altstadt, im typischen Berner Baustil, mit ihren ganzen Cafés und Bars und Restaurants und Lädeli ist irgendwie eine Mini-Version von Bern. Das ruhige Gemüt der Berner, respektive der Thuner, sorgt nicht nur für entspannte Atmosphäre, sondern auch für Entspannung meinerseits. Am Rathausplatz suche ich mir ein gemütliches Café aus, setze mich auf die Terrasse und bestelle mir eine Stange Thuner Bier und ein Apéro-Plättli. Die Sonne brennt vom Himmel und Wespen wollen mir an den Kräuterspeck. Das bringt mich aber nicht aus der Ruhe. Ich trinke mein Bier einfach etwas schneller, bevor es warm wird und den Wespen gebe ich ein paar Krümel Speck, quasi als Schutzgeld ab. Meine Tischnachbarn machen es genauso. Alle Tische sind inzwischen besetzt und die arbeitende Bevölkerung widmet sich ihrer Mittagspause an der Sonne.
Die Serviertochter stellt mir gerade freundlich meine zweite Stange Thuner Bier auf, da watscheln plötzlich zwischen all den Menschen zwei Herren in sehr kurzen, roten Badehosen über den Rathausplatz, jeweils ein Handtuch über der Schulter, als wären sie unterwegs zum Strand von Rimini und beabsichtigten, sich mit ihren Handtüchern eine Liege zu reservieren. Fast gleichzeitig läuten die Turmglocken und vom Waffenplatz der Schweizer Armee in der Nähe her donnern die Panzerkanonen. Meine Entspannung weicht allmählich der Neugier. Immer mehr Badehosen und Bikinis watscheln barfuß vorbei.
Ich trinke mein Bier zügig aus, zahle, und folge dem leicht bekleideten Schwarm. Wo die Aare sich um die Altstadtinsel schlängelt, führt eine Treppe ins Wasser. Da sind Badehose oder Bikini natürlich praktisch. Und schon ärgere ich mich, dass ich keine Badehose dabei habe. So mitten in der Stadt ohne – das würde wohl eher die Öffentlichkeit ärgern. Also gehe ich in friedvoller Absicht weiter und verlasse den Schwarm.
Vom Ufer aus entdecke ich hinter der Oberen Schleuse, die den Zufluss vom See in die Aare reguliert, Surfer. Genau wie Endo Anaconda singt. Die berühmten Wellenreiter auf der Aarewelle. Klar, das gibt es auch in München, aber hier in Thun ist es viel schöner. Auf der nächsten Brücke sehe ich den nächsten Schwarm Badehosen und Bikinis. Schulschluss in Thun. Die Jugendlichen klettern auf die Brückengeländer und springen hinunter in die kühle Aare. Wie gerne würde ich hinterher springen. Aber ich soll doch der schönen, grünen Aare nach, obwohl ich hier in Thun wunderbar Wurzeln schlagen könnte.



Aus Thun heraus führt die Aare 25 Kilometer weit durch das Aaretal nach Bern. An heißen Sommertagen, wie heute, herrscht hier Staugefahr. Auf der Aare! Hunderte Schlauchboote tummeln sich auf dem Wasser, lassen sich von der Strömung mitreißen und verwandeln den Fluss in das größte Spaßbad der Schweiz. Das muss man mal gemacht haben. Allerdings sollte man sich vor der tückischen Strömung in Acht nehmen und der Aare mit Respekt begegnen. So manch übermütigen Gummibootseemann und Schwimmer hat sie nicht mehr hergegeben. Den nötigen Respekt sollte man ihr auch in Sachen Naturschutz entgegenbringen. Sowohl im Wasser als auch in naturbelassener Uferlandschaft bietet die Aare Lebensraum für eine große Artenvielfalt und ein äußerst wichtiges Ökosystem. Seit 2005 gibt es hier sogar wieder Fischotter. Damals, beim Hochwasser konnte ein Pärchen aus dem Tierpark Dählhölzli in Bern ausbüxen und an der Aare eine Familie gründen.
"Schau mal, wie die Hundehalter Hunderunden gehen mit ihren Hunden
Dieser schönen, grünen Aare nach
Die Gynäkologen joggen mit ihren Doggen der Aare nach
Dann treffen sie die Hunde vom Gerichtspräsidenten
Und zusammen jagen sie Enten
Dieser schönen, schönen grünen Aare nach"
Außerdem befindet sich hier – wo genau verrate ich nicht – mein „Bänkli im Grünen“. Hinsetzen, Kopf aus und die Wellen wirken lassen,„Aareböötler“, Schwimmer, Nichtschwimmer, Jogger und Hunde, die ihre Besitzer ausführen beobachten, kraft tanken und weiter dieser Aare nach.



Auf Höhe des Berner Flughafens, befindet sich, vis-à-vis, das Aarebad Muri. Neben den Schwimmbecken und Liegewiesen hat man hier einen bequemen und sicheren Einstieg in die Aare. Wer möchte, kann hier mit der Aare durch Bern schwimmen. Man kauft sich hier einfach einen wasserdichten „Aaresack“, wenn man noch keinen hat, steckt sein Portemonnaie und seine Klamotten hinein und lässt sich einfach damit Treiben. Mit dem Tram oder Bus kommt man auch wieder zurück zum Aarebad, falls man sein Auto dort parkiert hat.
Das Wasser ist gar nicht mal so kalt. Knappe 20°C hat es manchmal im Sommer. Aber selbst im Winter bei Schnee und 5°C Wassertemperatur lassen sich einige das Aareschwimmen nicht nehmen. Unterwasser hört man das Knistern der kleinen Steinchen, die am Grund umhergewirbelt werden.
Am Dalmaziquai in Bern, kurz hinter dem Marzili Freibad, wird man leider aufgefordert, vorerst auszusteigen. Hinter der nächsten Rechtskurve vor dem Bundeshaus, befindet sich die Matteschwelle, die die Aare um das Mattequartier herum tieferlegt. Erst hinter dem „Schwellenmätteli“ kann man wieder in das leuchtend türkise Wasser einsteigen und der Schleife um die Berner Altstadt herum folgen. Ohne die Aare gäbe es auch kein Bern. Nur wegen der strategisch günstigen Lage in der Aareschleife, wurde dort überhaupt eine Siedlung gegründet. Und eine Schweiz ohne Bern? Undenkbar!
„Die Urlauber urlauben unter den Lauben
Dann gehen sie noch ein bisschen der Aare nach
Dieser schönen, schönen, grünen Aare nach
Dieser Aare nach“
Wer kein geübter Schwimmer ist, sollte davon Abstand nehmen, Bern schwimmend zu durchqueren. Am Bärengraben, bei der Nydeggbrücke ist das Ufer über 80 Meter lang mit Stufen versehen, die dazu einladen, die geschundenen und dampfenden Wanderfüße im Aarewasser zu kühlen. Wären die Stufen nicht betoniert, könnte ich hier auch gut anwurzeln, aber die Berner Altstadt ist Pflichtprogramm: Im Schatten der Laubengänge, am Münster, oder am Kornhausplatz ein Café suchen und eine Stange Bier bestellen, damit auch obere Körperteile, anstatt nur Füße gekühlt werden. Schwimmer sieht man zwar keine umherlaufen, wie in Thun, dafür aber einige Touristen, die auf ihre Stadtpläne starren, sich aufgeregt umsehen, wieder auf den Plan starren, sich wieder umsehen und so weiter. Meistens suchen sie die Zytglogge, den Bärengraben oder das Bundeshaus. Vor lauter Sehenswürdigkeitensucherei verpassen die armen Seelen meist das wirklich Sehenswerte. Die kleinen versteckten Kellerluken zum Beispiel, hinter denen sich einzigartige Geschäfte, Bars oder sogar Theater verstecken. Oder einfach die Menschen. Am Bärenplatz spielen ein paar ältere Herren höchst konzentriert Schach, am Bundesplatz toben Kinder durch den Springbrunnen, auf der Münsterplattform laufen mehrere, spannungsgeladene Boule-Spiele. Wenn man aufmerksam den scheinbar stressresistenten Einheimischen zusieht, kann einen nichts mehr aus der Ruhe bringen. Auch nicht die gehetzten Touristen. Ich betrachte mich selbst übrigens nicht als solchen. Eher als stillen Beobachter. Bevor ich mich aber noch weiter hoffnungslos in diese Stadt verliebe, gehe ich lieber weiter dieser schönen Aare nach.



Noch gut zweieinhalb Kilometer weiter, durch die Aareschleife bis zum Stauwehr Engehalde. Hier, wo die Aare die Stadt Richtung Norden verlässt, wusste sie anscheinend nicht so genau, wo sie hin soll. Erst noch eine kleine Schleife nach Osten um die Engehalbinsel, dann etwas weiter nach Norden, wo sie vor Zollikofen und Reichenbach lieber wieder nach Süden umkehrt. In dieser Aareschlinge bei Tiefenau fühlten sich schon die alten Römer wohl und hinterließen ihre Spuren. Sie müssen Nichtschwimmer gewesen sein. Zumindest jedenfalls Warmduscher, denn anstatt in der kühlen Aare zu baden, errichteten sie hier lieber ein beheiztes Nichtschwimmerbad, dessen Überreste heute noch zu sehen sind. Immerhin waren sie sauber.
Im folgenden Abschnitt vorbei an Bremgarten, präsentiert sich die Aare noch im schönsten Naturgewand. Im natürlichen, unverbauten Flussbett fließt sie ruhig und nahezu spiegelglatt daher. Die großen, alten Bäume am dichtbewachsenen Ufer scheinen nach dem Wasser zu greifen und sich ebenfalls die Füße kühlen zu wollen. Für romantisch veranlagte Schlauchbootkapitäne bieten sie reichlich schattige, lauschige Plätzchen im Uferdickicht. Jedenfalls so lange diese noch nicht von Familien besetzt sind, die dort Cervelas grillieren und die Kinder in der Aare planschen lassen, oder Schiffe versenken spielen.
Etwa acht Kilometer westlich von Bremgarten staut sich die Aare im Wohlensee, an dessen Ende das Kraftwerk Mühleberg die Wasserratten erneut zum Ausstieg zwingt. Für Fische steht aber ein Lift zur Verfügung. Schiffbrüchige Schlauchbootfahrer und schlechte Schwimmer werden spätestens hier herausgefischt. Nur einen Kilometer weiter steht schon das nächste Kraftwerk. Glücklicherweise muss man hier nicht schon wieder aussteigen, denn es handelt sich nicht um ein Wasserkraftwerk, sondern um ein Kernkraftwerk. Das kalte Aarewasser eignet sich nämlich nicht nur zum Kühlen überhitzter Füße hervorragend, sondern auch zum Kühlen von Atomreaktoren. Trotzdem entschied man 2019, das Kernkraftwerk abzuschalten, und die Aare von ihrer Aufgabe zu entbinden. Weiter fließt die Aare noch rund zehn Kilometer gemächlich gen Aarberg. Dort setzt man wieder auf Wasserkraftwerke.
„Schau, wie die Fahrradfahrer Fahrrad fahren mit ihren Fahrrädern
Dieser schönen, grünen Aare nach
Dieser Aare nach“
Aarberg ist das Tor zum Berner Seeland. Ursprünglich verlief die Aare von hier aus weiter in nordöstlicher Richtung nach Solothurn und überschwemmte bei Hochwasser das gesamte Seeland, welches daraufhin völlig versumpfte und trockenen Fußes nicht mehr zu durchqueren war. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sagte man der Aare und den überlaufenden drei Seen den Kampf an. Neuenburgersee, Murtensee und Bielersee wurden mit Kanälen verbunden und die Aare ab Aarberg in den Bielersee umgeleitet. So konnte das Wasser besser abfließen und das versumpfte Seeland abtrocknen. Ideal für den Ackerbau, entstand hier der heute größte „Gemüsegarten der Schweiz“, wo über 60 Gemüsesorten angebaut werden. Eine begradigte Aare ist für mich eher mäßig interessant, weshalb ich ab Aarberg das Fahrrad sattle, besteige, das Gemüse links liegen lasse und der „Alten Aare“ nach Büren folge. Sie ist ab hier zwar mehr ein Bächlein, als ein Fluss, dafür ist man hier mitten in der Wildnis, wo sich Vogelgezwitscher des Waldes und das Rauschen der A6 vermischen. Ab der Hälfte der Strecke nur noch die Wildnis der Auenlandschaft mit Vogelgezwitscher und quakenden Enten. Wenn die neue Aare Hochwasser führt, dient die Alte Aare als Entlastung und schützt die umliegenden Ortschaften. Bei Büren mündet die Alte Aare schließlich in die neue und darf weiter in ihrem selbstgewählten Bett gen Solothurn plätschern. Das Schlauchboot ist auf diesem Abschnitt wieder das bevorzugte Fortbewegungsmittel.
Bei Altreu sieht man häufig Störche. 1948 wurde hier eine Storchensiedlung gegründet. Heute beherbergt sie mehr als 100 Störche und wurde als „Europäisches Storchendorf“ ausgezeichnet. Auf die Geburtenrate in der Region hatte die Ansiedlung aber so gut wie fast wenig Einfluss. Gottlob! Eine klapperstorchbedingte Überbevölkerung nähme der schönen Landschaft am Jurasüdfuß sicher ihren Reiz. Diesen Abschnitt sollte man genießen, denn je weiter man der Aare ab hier folgt, desto mehr verliert sie ihre Natürlichkeit. Erste Anzeichen dafür findet man bei Solothurn. Doch erst kommt man in die hübsche kleine Barockstadt mit ihrem fast schon mediterranen Flair. Nein, ich werfe nicht schon wieder den Anker aus, sondern fahre weiter!
Hinter Solothurn, wo die Aare breiter wird, häufen sich auch die Industrieanlagen. Bei Luterbach am linken Ufer die 2008 stillgelegte Cellulosefabrik, die sich inzwischen zu einem Kulturzentrum für junge Leute, Künstler und alternativ Gesinnte entwickelt hat. Am rechten Ufer prangt dafür jetzt eine gewaltige Produktionsanlage für biopharmazeutische Erzeugnisse, die mehr als 600 Arbeitsplätze geschaffen hat. Die Idylle der Aare ist jedenfalls für Naturfans mehr, für Hipster hingegen weniger dahin.
Hinter der nächsten Brücke ist man eh wieder mit aussteigen beschäftigt. Mal wieder das Stauwehr eines Wasserkraftwerkes, das den Weg versperrt, um die Region mit sauberem Aarestrom zu versorgen. Weiter geht es vorbei an einem Golfplatz, einem Betonwerk, der A1 und einem Anglerverein nach Wangen an der Aare. Direkt am Ufer im alten Ortskern steht das Salzhaus aus dem Jahr 1664. Hier wurden damals die Salzvorräte für ganz Bern gelagert, als die Aare noch als wichtige Schifffahrtsroute genutzt wurde. Das Schloss nebenan beherbergt heute das Regierungsstatthalteramt Oberaargau, die Kantonspolizei Bern und eine Kaserne. Auch nach dem Ortskern folgen noch weitere Militäranlagen, bevor wieder mal ein Abschnitt der Natur überlassen wird. Die geschützte Vogelraupfi-Insel will ich auch gar nicht weiter beschreiben, damit nicht jemand auf die Idee kommt, die Ruhe der brütenden und nistenden Wasservögel dort zu stören.
Auf den nächsten zwanzig Kilometern genieße ich die Ruhe auf der gemütlich dahinfließenden Aare. Breites Fahrwasser, hübsche, alte Holzbrücken, zwitschernde Vögeli, ein obligatorisches Wasserkraftwerk, die Rivella-Zentrale in Rothrist und noch ein Wasserkraftwerk kurz dahinter, das den Weg versperrt. Ein weiteres Mal aussteigen, hinter dem Wehr wieder wassern und gen Aarburg treiben lassen. Direkt auf die alte Festung mit Kirche zu, die auf dem Hügel über die Stadt wacht. Die Aare macht davor einen Haken nach links. Plötzlich verlangsamt sich meine Fahrt und ich muss Paddeln wie verrückt um noch irgendwie die Linkskurve zu erwischen. Vergebens. Ich kapituliere und lege rechts in der Bucht an. Dort klärt mich eine Infotafel auf, dass nicht ich, sondern die Aare hier verrückt ist. Die Strömung prallt frontal auf den Felsen, hinter dem die Festung liegt, und wird durch die Bucht rechts verwirbelt. Deshalb fließt die Aare hier rückwärts. Das gibt es sonst nirgendwo in Europa. Schön, aber wie komm ich hier wieder raus? Auf einer Bank sitzt breit grinsend ein älterer Herr, der mich und mein blödes Gesicht wohl schon länger beobachtet haben muss. Als ich ihn bemerke fragt er sichtbar amüsiert: „Chunnsch nid druus?“ Dass ich aus der Bucht nicht raus komme, ist offensichtlich. Zu übersetzen ist die Frage aber mit: „Kapierst du es nicht?“ Ich schüttle also verwirrt den Kopf. Freundlich, aber immer noch breit grinsend, erklärt er mir, was ich tun muss, um weiter zu kommen. Die Lösung des Problems ist einfacher als gedacht, deshalb behalte ich sie auch für mich. Findet es doch selbst heraus!
Hinter Aarburg folgt auch schon Olten. Der weise, alte, breit grinsende Mann gab mir noch einen wertvollen Rat für Olten auf den Weg. Hinter der ersten Eisenbahnbrücke spaltet ein großer Felsen die Aare. Diesen „Franzoos“ soll ich links umfahren, aber gleich dahinter so genau wie möglich durch die Mitte der Aare. Ansonsten reißt mich die Strömung nach links ins Chessiloch, eine Bucht aus der man auch nur schwer wieder raus kommt und schnell mal kentert. Ich denke, man sollte öfter den Einheimischen Gehör schenken und deren Gesellschaft suchen. Ich befolge den Rat und bleibe nicht schon wieder hängen.
Üblicherweise muss man in Olten umsteigen, wenn man mit der Bahn reist, denn Olten ist die Heimat der SBB und somit wichtiger Knoten- und sogar Ausgangspunkt im Schweizer Schienenverkehrsnetz. Zwar gibt es hier mal wieder ein Wasserkraftwerk, umsteigen muss ich auf dem Wasser aber nicht. Vor dem Wehr wurde die Aare einfach geteilt. Die Alte Aare erzeugt sauberen Strom, die neue Umleitung führt bequem daran vorbei. Merssi vielmal!
Hinter der nächsten Kurve bei Obergösgen taucht ein gewaltiges Kraftwerk auf. Ein dampfendes Ungeheuer unterbricht den Aarefrieden. Die Alte Aare kühlt den Reaktor Gösgen-Däniken. Zwar muss man nicht umsteigen, aber da sind mir Wasserkraftwerke doch lieber. Mein Wunsch wird erhört und wenige hundert Meter weiter kommt das nächste Wasserkraftwerk auch schon. Umsteigen! Zwischen Aarau und Brugg folgen noch weitere Stauwehre und Wasserkraftwerke. Sie zu zählen, habe ich aufgegeben.
In Brugg nimmt die Aare wieder fahrt auf. Sie muss sich durch das Nadelöhr der Altstadt zwängen und ist plötzlich mit siebzehn Metern tiefer als breit und taugt mehr zum Wildwasserrafting, als zum gemütlichen Paddeln. Hinter Brugg wird die Aare wieder breit und immer breiter. Im „Wasserschloss“ münden die Reuss und die Limmat in die Aare und erhöhen die Abflussmenge von 315 Kubikmetern pro Sekunde auf 555. Aus 40% der Gesamtfläche der Schweiz fließt an diesem Punkt das Wasser zusammen. Aus dem Berner Oberland, dem Berner Mittelland, dem Aargau, der Innerschweiz und aus Glarus. Damit ist die Aare ab hier der wasserreichste Fluss der Schweiz.
„Geh doch ein bisschen der Aare nach
Dieser schönen, schönen, grünen Aare nach
Dieser Aare nach
Die Aare geht ins Meer“
„Dieser schönen grünen Aare nach...“ - Das Mantra von Herrn Anaconda hat mir bis hierher viel Freude und haufenweise schöne Momente beschert. Es lohnt sich also wirklich, auf ihn zu hören. Er hatte recht. Jedenfalls bis hierher, denn ab Stilli ist die Aare eher braun als grün. Schön ist sie trotzdem noch, wenn man das Kernkraftwerk Beznau, sieben Kilometer vor der Aaremündung im Rhein, toleriert. Das letzte Wasserkraftwerk vor der Mündung ist aber noch zu verkraften.
1665 Höhenmeter fließt die Aare bis zur Mündung in den Rhein bei Koblenz an der deutschen Grenze hinab. 560 Kubikmeter pro Sekunde bringt die Aare mit, der Rhein nur 440. Damit führt der Rhein ab hier schon mit 1000 Kubikmetern pro Sekunde fast die Hälfte seines Wassers, das an der deutsch-niederländischen Grenze durchfließt. Dann müsste doch eigentlich der Rhein in die Aare münden, anstatt umgekehrt. So gesehen geht die Aare also auch ins Meer, in die Nordsee. Endo hat Recht.
Das Lied klingt aus und die Verkehrsmeldungen holen mich zurück auf den festen Boden meiner Küche. Mein Schlauchboot ist nur noch ein knarrender Küchenstuhl und das einzige Nass ist ein Tropfen Rotwein, der an meinem leeren Glas hinunterläuft und einen weiteren Fleck auf dem alten Eichentisch hinterlässt. Wie der Weintropfen auf dem Tisch, so hinterlässt auch die Aare ihre Spuren, wenn man sie ein Mal erlebt hat. Man muss immer wieder hin, an die frische Luft, an die schöne, schöne, grüne Aare. Sich einfach wie ein gewöhnlicher Tourist auf eine Brücke zu stellen, ein paar Fotos zu schießen und dann der nächsten Sehenswürdigkeit hinterherzujagen, wird der Aare und dem Land nicht gerecht. Man muss sich Zeit nehmen, genau hinsehen, den Menschen Beachtung schenken und sich in den Lebensraum einordnen, den die Aare gibt. Sie kann ihn auch jederzeit wieder nehmen, wenn man versucht, sich ihr überzuordnen.
Ich werde immer wieder an die Aare fahren und reich an unbezahlbaren Erinnerungen zurückkehren - So reich, wie mein Küchentisch an Rotweinflecken ist.
Danke, Endo Anaconda! Die frische Luft hat gut getan.