Hexenverfolgung in der Schweiz - Die Lehren aus 380 dunklen Jahren

Veröffentlicht von Joelina

Hexenverbrennung in Lausanne, 16. Jahrhundert - Johann Jakob Wick
Stellen Sie sich vor, ein einziges Wort oder bloß ein Gerücht über Sie, das in der Gemeinde die Runde macht, könnte Ihr Todesurteil bedeuten! Für viele Menschen während der Zeit der Hexenverfolgungen war genau das die bittere Realität. Auch in der Schweiz, wo Aberglaube besonders weit verbreitet war und die Kirche großen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben hatte, gehörte diese grausame Praxis über Jahrhunderte zum Alltag. In keinem anderen Land Europas wurden im Verhältnis zur Bevölkerungszahl so viele Menschen wegen Hexerei hingerichtet. Insgesamt fielen in der Schweiz rund 10.000 Menschen der Hexenverfolgung zum Opfer. Was heute wie ein dunkles Kapitel aus einem Fantasyroman klingt, war vom späten Mittelalter bis weit in die Frühe Neuzeit hinein tödlicher Ernst. Von der ersten «Hexe» 1402 in Schaffhausen bis zur letzten «Hexe» 1782 in Glarus wurden Menschen gefoltert, verurteilt, verbrannt und ermordet, weil man ihnen einen Pakt mit dem Teufel unterstellte.

Wer waren diese «Hexen»?

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Die Ursprünge dieser Verfolgungswellen reichen zurück ins frühe 15. Jahrhundert, eine Zeit voller Krisen, Krankheiten und tiefgreifender Umbrüche. Pestepidemien, Missernten und religiöse Spannungen erschütterten die Gesellschaft. In dieser Unsicherheit verlangten die Menschen nach einfachen Erklärungen und nach Schuldigen.

Wenn wir heute an Hexen denken, erscheint vor unserem geistigen Auge oft eine alte Frau mit krummem Rücken, langer Nase und dunklem Umhang, vielleicht mit einem Besen in der Hand, einer schwarzen Katze an ihrer Seite und einer Warze im Gesicht. Das Klischee der Märchenhexe, wie wir sie aus «Hänsel und Gretel» kennen, ist tief in unserer Vorstellung verankert und häufiges Vorbild für Verkleidungen an Halloween oder der Fasnacht. Doch mit der Realität hatte das Bild vor unserem geistigen Auge kaum etwas zu tun.

So stellte man sich den «Hexensabbat» vor. - Johann Jakob WickDie vermeintlichen Hexen des Mittelalters passten in kein festes Schema. Eine klare Definition einer Hexe gab es nicht, vielmehr konnte jede und jeder betroffen sein: Frauen, Männer, sogar Kinder. Der Begriff «Hexe» war nicht geschlechtsspezifisch. Gemeint war damit jede Person, der nachgesagt wurde, Magie oder Zauber anzuwenden, sei es zum Schaden anderer oder zur Heilung. Besonders gefährdet waren jedoch Menschen, die am Rande der Gesellschaft standen. Alleinstehende, Witwen, arme, kranke oder Menschen mit Behinderungen oder seltenen körperlichen Merkmalen, eben all jene, die im Auge der Gesellschaft als «anders» galten.

In einer Zeit, in der es an Bildung mangelte und rationale Erklärungen fehlten, suchte man für unerklärliche Ereignisse, wie plötzliche Tode, Krankheit oder Missernten nach Ursachen. Wenn eine Ursache nicht festgestellt werden konnte, musste an deren Stelle ein Sündenbock oder gar mehrere gefunden werden. Wer sich mit Kräutern und Heilkunde beschäftigte, galt schnell als verdächtig. Gerade die weitverbreitete Naturheilkunde im Alpenraum geriet während der Hexenverfolgung in Verruf und praktisch jedes Dorf hatte mindestens eine «Kräuterhexe». Medizinisches und biologisches Wissen wurde mit Magie gleichgesetzt und galt somit als Teufelswerk. Durch diesen Pakt mit dem Teufel war eine Hexe auch automatisch die Erklärung für alles Unheil, das eine Gesellschaft belastete. War das Unheil mit ihrer Hinrichtung nicht abgewendet, so mussten wohl noch mehr Hexen gefunden und beseitigt werden. Die wohl brutalste Hexenjagd auf Schweizer Boden fand im 15. Jahrhundert im Wallis statt, wo hunderte Menschen als Hexen gefoltert und hingerichtet wurden. Die häufigsten Motive für eine Anschuldigung: Eifersucht und Nachbarschaftsstreit. Unliebsame Mitmenschen wurden beschuldigt, durch Zauberei Lawinen oder schwere Krankheiten auszulösen. Schon beim Aufkommen eines solchen Gerüchtes im Dorf blieb dem Opfer bestenfalls nur noch eine rasche Flucht bei Nacht und Nebel.

Die «Teufelshochzeit» von Erlach, BE. - Johann Jakob WickStaat und Kirche als Todesengel

Die Hexenprozesse wurden in der Regel von weltlichen Gerichten durchgeführt, doch auch kirchliche Institutionen beteiligten sich intensiv an der Verfolgung. Die weltlichen Machthaber suchten meist nach Sündenböcken für gesellschaftliche Missstände oder schafften einfach politische Gegner, welche die Macht der Obrigkeit in Frage stellen könnten, aus dem Weg. Der Kirche ging es primär um die Bekämpfung von Ketzerei. Wissen und Forschung standen im Widerspruch zur von der Kirche gepredigten göttlichen Schöpfung und stellten somit auch die Legitimation der Kirche in Frage. Im Rahmen der sogenannten Inquisition wurden systematisch Abweichler vom christlichen Glauben verfolgt. Hexen galten als Ketzer. Sie waren in den Augen der Kirche nicht nur Gegner des Glaubens, sondern auch Verbündete des Teufels.

Besonders folgenschwer war die von Papst Innozenz VII. im Jahr 1484 erlassene «Hexenbulle», welche die Verfolgung und Hinrichtung mutmaßlicher Hexen nicht nur legitimierte, sondern explizit förderte. Auch wenn die Kirche das Vorgehen legitimierte, wurden die meisten Hinrichtungen durch weltliche Instanzen vollstreckt. Die sogenannten «peinlichen Verhöre» hatten mit rechtsstaatlichen Verfahren nichts zu tun. Geständnisse und das Aufzählen angeblicher Komplizen wurden unter schwerster Folter erzwungen. Wer einmal unter Verdacht stand, hatte kaum eine Chance zu überleben. Am Ende stand fast immer die Todesstrafe, meist durch das Schwert oder auf dem Scheiterhaufen. Dieses Urteil wurde häufig sogar von den Opfern der Folter ersehnt. So soll beispielsweise die «Hostien-Diebin» und «Hexe» Anna Vögtlin 1447 in Willisau ihrem Richter ausgesagt haben, sie wolle «ungezwungen selber mit guotem willen in das feur gan.»

Hinrichtung der «Hexe» Anna Vögtlin 1447 in Willisau. - Johann Jakob WickDer Fall Anna Göldi – die letzte «Hexe» der Schweiz

Im Jahr 1782 endet in Glarus ein dunkles Kapitel europäischer Geschichte. Der letzte Hexenprozess gegen die Dienstmagd Anna Göldi sorgt für großes Interesse der Öffentlichkeit. Was wie ein mittelalterliches Relikt erscheint, ist in Wahrheit ein Justizskandal.

Anna Göldi, geboren in ärmlichen Verhältnissen, war eine einfache Magd im Dienst von Dr. Johann Jakob Tschudi, Arzt, Richter und Politiker in Glarus. Als dessen Tochter plötzlich erkrankt, Lähmungserscheinungen zeigt und angeblich Stecknadeln erbricht, fällt der Verdacht rasch auf die Magd. Sie wird entlassen und der Hexerei angeklagt. Der absurde Vorwurf: Sie habe die Stecknadeln «in die Milch gezaubert». Wie kam es zu einem solchen Vorwurf im späten 18. Jahrhundert? Die Antwort liegt in der damaligen Verhörpraxis. Unter körperlicher und seelischer Qual gestanden die Angeklagten alles, sogar einen Pakt mit dem Teufel – so auch Anna Göldi. Am 13. Juni 1782 wird sie durch das Schwert hingerichtet. Die Empörung über dieses Urteil folgt rasch. Der Begriff «Justizmord» fällt zum ersten Mal, geprägt von Menschenrechtlern, die den Vorwurf «Hexerei» als reinen Vorwand deklarieren, denn es gibt zahlreiche, offensichtliche Ungereimtheiten.

Der Prozess wurde überstürzt und unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Details über den Prozess sind heute nur dank eines Gerichtschreibers, der heimlich Kopien der Prozessakten an deutsche Journalisten weitergab, bekannt. Bei näherer Betrachtung des Prozesses wurde schnell klar: Das Urteil war unrechtmäßig. Das Urteil wurde von einem Gericht gefällt, das rechtlich nicht zuständig war. Da Göldi nicht aus Glarus stammte, hätte ein gemischtkonfessionelles Gericht über sie urteilen müssen. Noch schwerer wiegt jedoch der Verdacht persönlicher Motive. Tschudi selbst leitete das Verfahren. Es gibt Hinweise auf eine mögliche Affäre zwischen ihm und Göldi – damals noch ein Tabubruch, der für ein Ratsmitglied den sozialen Abstieg bedeutet hätte. Eine Schwangerschaft hätte das Ausmaß des Skandals vervielfacht. Wollte Tschudi mit dem Prozess eine Gefahr für seinen Status beseitigen? Der Fall Anna Göldi steht heute exemplarisch für Machtmissbrauch, Justizwillkür und Intrigen. Es war kein mittelalterlicher Scheiterhaufen, sondern ein moderner Justizmord unter dem Deckmantel des Rechts.
 © annagoeldimuseum.ch

Warum es heute noch wichtig ist, an die Zeit der Hexenverfolgung zu erinnern

Im Jahr 2007 wurde die Anna-Göldi-Stiftung gegründet. Sie setzt sich für sozial benachteiligte Gruppen und für Opfer staatlicher Willkür ein. Auf ihr Bestreben hin wurde 2014 ein Mahnmal errichtet; nicht am Hinrichtungsort Göldis, sondern bewusst am Gerichtshaus im Ortskern von Glarus. Es steht nicht nur für den Tod Anna Göldis, sondern symbolisch für all jene, die wegen politischer, religiöser oder rassistischer Motive verfolgt wurden. Heute erinnert auch das Anna-Göldi-Museum in Glarus an deren Schicksale. Die Zeit der Hexenverfolgung mag zwar heute gottlob vorüber sein, doch Machtmissbrauch, Verleumdung und Nachbarschaftsstreitigkeiten gibt es nach wie vor mit den alten Motiven. Nicht selten spricht in solchen Fällen der Volksmund noch immer von einer «Hexenjagd» gegen die Opfer. Um diese Ursachen zu bekämpfen, ist es daher wichtig, die Analogie zwischen der Zeit der Hexenverfolgungen und der heutigen Zeit deutlich zu machen.

Auch an der Mittleren Rheinbrücke in Basel mahnt heute eine Inschrift:

«Basel gedenkt der Menschen, die in früheren Jahrhunderten der Hexerei bezichtigt, verfolgt, gefoltert und getötet worden sind.
Heute ist ein Ort, der uns ermahnt, anderen Menschen ohne Vorurteile zu begegnen und sie nicht auszugrenzen.»


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