«Bochselnacht» in Weinfelden – Das Fest der Schüler dem Weingott Bacchus zu Ehren

Lichter aus, «Räbeliechtli» an! So heißt es jährlich am Donnerstag der letzten vollen Woche vor Weihnachten im kleinen Dorf Weinfelden im Thurgau. Die «Bochselnacht» ist die wohl lebendigste Tradition in Weinfelden – besonders unter den Schulkindern und das schon seit Jahrzehnten nahezu ununterbrochen.
Eine Altstadt im Dunkeln
Die Straßenlaternen in der Weinfeldener Altstadt erlöschen, die Lichter in den Häusern werden abgeschaltet, die ganze Stadt liegt im Dunkeln. Punkt 17:30 Uhr zieht ein Zug voller bunter Lichter durch die Dunkelheit der Altstadtgassen. Der Kinderumzug mit den «Räbeliechtli» bewegt sich vom Schulhausplatz bis zum Rathausplatz und bietet den Zuschauern ein stimmungsvolles Lichterspiel in historischer Kulisse. Die Bochselnacht hat begonnen. Kurz vor Weihnachten präsentieren sich die Schulgemeinschaften Weinfeldens von ihrer besten Seite.
Bereits zwei Tage vor dem Umzug beginnen die Vorbereitungen in den Schulen. Ein lokaler Bauer liefert jedes Jahr die Zuckerrüben, die die Kinder für ihre «Bochseltiere» benötigen. Die Rüben höhlen sie aus und schnitzen Gesichter und Figuren hinein. Jedes Kind, von der 1. Primarstufe bis zur 2. Sekundarstufe, darf sich eine Rübe aussuchen und selbst gestalten. Anschließend werden die Rüben an Stäben befestigt.
Kurz vor Beginn des Umzugs versammeln sich die Kinder auf dem Schulhausplatz der Pestalozzischule. Um 17:30 Uhr setzt sich der Zug langsam in Bewegung. Angeführt von Trommlern zieht er durch die Dunkelheit, vorbei an staunenden Zuschauerinnen und Zuschauern. Am Ziel, dem Rathausplatz, singen die Kinder, begleitet von einer Musikgruppe des Gemeinderats, das Bochselnacht-Lied: «Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht».
Anschließend werden die Kerzen in den Rüben gelöscht. Die Kinder kehren ins Schulhaus zurück und werden dort mit Brezeln für ihren Einsatz belohnt.




Großes Theater auf kleiner Bühne
Gegen 20 Uhr sind die ältesten Schüler an der Reihe: Die 3. Sekundarstufe führt das Bochseltheater auf. In der Regel handelt es sich dabei um Märchen oder bekannte Geschichten aus dem Fantasy-Genre. Klassiker wie «Krabat», «Der König der Löwen», aber auch modernere Erzählungen wie «Harry Potter» oder «Der kleine Hobbit» werden mit großer Hingabe auf die Schulbühne gebracht. Die Proben und Vorbereitungen beginnen bereits Wochen vor dem großen Auftritt. Kostüme und Masken werden größtenteils eigenständig von den Jugendlichen angefertigt.
Auch die Erwachsenen kommen auf ihre Kosten: In den örtlichen Gasthäusern genießen sie die eigens für diesen Tag von den Bäckern gebackenen «Böllewegge», ein längliches Gebäck mit Zwiebeln. Dazu werden Salzisse (Brühwurste) mit Kartoffelsalat und Wein vom Ottoberg serviert. Die Oberstufenschüler dürfen nach der Aufführung noch ausgelassen in der Dorfdisco feiern.
Die Geschichte der Bochselnacht
Eine gesicherte Entstehungsgeschichte oder eindeutige Bedeutung des Brauchs lässt sich nicht ausmachen. Dennoch hält sich im Dorf seit jeher die Erzählung, dass der Ursprung der Bochselnacht auf einen Pestausbruch in der Ostschweiz zurückgeht.
Der Großteil der Pestinfektionen bestand damals aus der Beulenpest, benannt nach den geschwollenen Lymphknoten, die wie Beulen aussahen. Im Jahr 1629 erreichte der Schwarze Tod schließlich auch die Ostschweiz. Wer damals erkrankte, hatte kaum Überlebenschancen. Die Pest zog unaufhaltsam durchs Land und hinterließ eine Schneise des Leids. Laut Überlieferung verstarben zwei Drittel der Weinfeldener Bevölkerung. Ganze Haushalte wurden ausgelöscht, Gebäude standen leer, das Dorf glich einer Geisterstadt.
In ihrer Verzweiflung verließen die jungen Männer in dem Wissen, dass sie bald sterben würden, ihre Arbeitsstellen, um sich in Trinkgelagen zu verlieren. In ihren Kreisen hieß es:
«Nun lasset uns essen und trinken und fröhlich sein, denn morgen sterben wir!»
Erstaunlicherweise blieben diese Männer gesund. Ihr Entrinnen vor dem sicheren Tod führten sie auf den Weingenuss zurück. Fortan hielten sie jährlich Mitte Dezember ein Fest zu Ehren des Weingottes Bacchus ab, das Bacchusfest, im Dialekt auch «Bochselfest» genannt. Um das damalige Schicksal und den Tod den nachfolgenden Generationen näherzubringen, höhlten sie Rüben und Kürbisse aus, schnitzten Grimassen hinein und stellten Teelichter hinein. So entstanden – der Erzählung nach – die «Bochseltiere».



Früher durften die Kinder rauchen
Wie jeder Brauch untersteht auch die Bochselnacht einem ständigen Wandel. Früher war es üblich, dass die Schüler während des Umzugs und während der gesamten Bochselnacht auch vor Erreichen der Volljährigkeit rauchen durften. Ein konkretes Gesetz gab es dazu zwar nicht, doch diese Praxis wurde offenkundig geduldet. Erst 2004 wurde dies aufgrund von Bedenken zum Jugendschutz abgeschafft und verboten, doch schon lange Zeit vorher durchlief der Brauch einige Anpassungen.
So zogen die Kinder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch mit ihren Bochseltieren durch die Altstadt zu den Häusern ihrer Lehrer, wo sie Backwaren, Äpfel, Nüsse und manchmal auch Geld erhielten. Zu dieser Zeit war der Ablauf des Festes ungeregelt und willkürlich. Zunächst liefen zudem nur die Schüler der Primarschule durch die Gassen, die Schüler der Sekundarschule schlossen sich ihnen erst im Laufe der Jahre an.
Nach einiger Kritik aus der Bevölkerung, aufgrund des ungesitteten Treibens dieser Nacht, schloss sich in den 1990er Jahren die Lehrergemeinschaft zusammen, um dem Brauch einen festen, koordinierten Rahmen zu geben. Seit 2004 gab es keine größere Revision des Brauches mehr, sodass er nun seit mehr als zwei Jahrzehnten demselben Ablauf folgt.
