Schräger Spaß mit Schlagseite - Mammut-Floßrennen im Thurgau
Muttertag – die einen verbringen ihn gemütlich beim Brunch mit der Familie, die anderen beobachten lieber überdimensionale Flöße auf der Sitter und der Thur. Der zweite Sonntag im Mai ist üblicherweise den Müttern vorbehalten, doch im Thurgau steht das Mammut-Floßrennen im Rampenlicht. Über 40 Vereine gehen an den Start. In verschiedenen Kategorien, von sportlich bis völlig abgefahren, bieten die Flöße schräge Unterhaltung und einen Riesenspaß für die ganze Familie.
Ein Rennen mit Tradition seit 1974
Im Jahr 1974 hatten drei Freunde des Turn- und Kanuvereins im Thurgau eine Schnapsidee, die sich als außerordentlich erfolgreich herausstellen sollte. Beim ersten Floßrennen gingen sechs Mannschaften an den Start. Mittlerweile sind es über 40, teilweise sogar bis zu 70 Mannschaften, die sich der Herausforderung stellen. Sie nehmen den zwölf Kilometer langen Weg über die Sitter und die Thur von Degenau bis nach Kradolf in Angriff.



Der Charakter des Rennens hat sich in den letzten 50 Jahren nie geändert. Was sich geändert hat, sind die Kategorien und deren Aufteilung. Der sportliche Kampfgeist bleibt in der Rennklasse bis heute bestehen, jedoch nehmen anteilig weniger Floßvereine an dieser Kategorie teil. Am beliebtesten, mit etwa zwei Dritteln aller Teilnehmer, ist die Originalitätsklasse. Hier geht es darum, ein möglichst spektakuläres Floß zu bauen und dieses sicher ans Ziel zu bringen. Die Flöße wiegen oftmals mehrere Tonnen und haben spektakuläre, themenorientierte Aufbauten.
Dann gibt es noch die Plauschklasse. Sie ist die jüngste der drei Kategorien und völlig wertungsfrei. Bei ihr geht es mehr um die Geselligkeit als um alles andere. So können außerdem interessierte Clubs einmal ganz ohne Stress oder besonders großen Aufwand in das Floßrennen reinschnuppern – und wer weiß, vielleicht gehen sie ja im nächsten Jahr in einer der anderen Kategorien an den Start.



Der Fasnachtsumzug auf dem Wasser
Das Rennen findet traditionell am Muttertag statt, doch das Fest beginnt bereits am Vorabend. Bis 18 Uhr müssen sämtliche Flöße am Startplatz in Degenau eingetroffen sein. Dort können Besucher die aufwendig gestalteten Flöße bereits vor dem eigentlichen Rennen bestaunen und sich bewirten lassen. Am Sonntag geht es dann richtig los. Um 10 Uhr starten die Flöße der Originalitätsklasse und der Plauschklasse. In diesen Kategorien stehen die Kreativität und Geselligkeit im Vordergrund. Folglich lässt man sich Zeit. Bis zu sechs Stunden Zeit haben die Floßmannschaften, bis die Flöße das Ziel in Kradolf erreicht haben müssen. Bewertet wird nur die Originalitätsklasse. Eine fünfköpfige Jury entscheidet nach breit gefächerten Kriterien. Darunter Bauaufwand, Ästhetik, Aktualität des Themas sowie die Umsetzung und die Interaktion der Crew mit den Zuschauern. Zusätzlich zur Jury können auch die Zuschauer über das E-Voting für ihren Favoriten abstimmen. Zum Schluss kommen die Leistungssportler an den Start. Mit voller Kraft paddeln sie dem Ziel entgegen. Je nach Wetterlage und Wasserstand dauert es mal länger, mal kürzer – im Durchschnitt etwa anderthalb Stunden. Um 16 Uhr müssen schließlich alle Flöße im Ziel angekommen sein.



Auf dem Weg liegen die drei Wehre Sitterdorf, Bischofszell und Schönenberg-Kradolf, welche für die Zuschauer als spektakuläre Schauplätze empfohlen werden. Mit Proviant, Klappstühlen, Grills und Picknickdecken ausgestattet, beobachten die Schaulustigen hier die vorbeifahrenden Kunstwerke. Für die Flöße sind sie die größten Hindernisse der Strecke. An diesen Stellen verwandelt sich das Floßrennen nahezu in eine Wildwasserbahn – eine ganz schön feuchte Angelegenheit. Teilweise muss die Floßbesatzung sogar vor dem Überqueren der Wehre das Floß aus Sicherheitsgründen verlassen und gelegentlich erleidet die ein oder andere Mannschaft auch «Floßbruch».



Angekommen im Ziel, ist erst einmal eine Verschnaufpause angesagt. Für das leibliche Wohl ist auch am Ziel bestens gesorgt. Mit Würschtli und Brot kann in der Entspannungslounge ausgelassen die Zeit bis zur Siegerehrung überbrückt werden. Auch für die Kleinsten ist gesorgt. Ein riesiger Spielplatz und ein Gumpischloss (hochdt.: «Hüpfburg») bieten beste Unterhaltung, während die Eltern in aller Ruhe entspannen können. Auch die Floßbesatzung kommt auf ihre Kosten – und das schon während der Fahrt. Auch wenn das Rennen gewertet wird, stehen der Spaß und die Geselligkeit immer noch im Vordergrund. Üblicherweise ist dabei auch nicht selten Alkohol involviert. Zum Floßfahren müsse man nicht nüchtern, sondern nur «verhältnismäßig normal sein», und «normal ist relativ». Deswegen: «Zum Wohl!» So beschreibt es eine Teilnehmerin gegenüber «20-Minuten».
Ein gemeinschaftlicher Akt
Bis zu 30.000 Besucher lockt die Floßparade auf dem Wasser jährlich an, welche natürlich auch koordiniert werden müssen. Doch wer macht das Ganze? Ein dedizierter Verein natürlich:
Der «Verein Floßrennen», bestehend aus dem Turnverein Thurgau, dem Männerturnverein und der Frauenriege Schönenberg-Kradolf, stellt das Spektakel jedes Jahr auf die Beine. Ein ständiges Organisationskomitee aus 15 Mitgliedern beginnt schon im Januar mit den Sitzungen zur Planung. Auch die Teilnehmervereine beginnen mit ihren Vorbereitungen und dem Bau der Flöße. Diese müssen vollständig selbstgebaut sein und bringen einen entsprechenden Aufwand mit sich.
Die 15 Organisatoren koordinieren Verpflegung, Sicherheit, PR und vieles mehr. Das «OK Floßverein» bleibt weitgehend gleich besetzt. Der Präsident des Vereins ist seit acht Jahren im Amt. Diese personelle Kontinuität ermöglicht es den Organisatoren, Wissen bestens an die Nachfolgegeneration weiterzugeben. So gehen die über 50 Jahre hinweg gesammelten Erfahrungen nie verloren. Dass sie die Veranstaltung nicht komplett alleine stemmen können, leuchtet wohl ein. Allein am Renntag sind 400 freiwillige Helfer im Einsatz. Darunter Verkehrskadetten, Rettungsschwimmer, die Kantonspolizei und viele weitere. Dem Floßverein geht es nicht um Gewinnmaximierung. Stattdessen wird den Helfern mit einem Erfrischungsgeld gedankt. Auch die Trägervereine und der Floßverein selbst erhalten einen gewissen Anteil der Gewinne und verwenden diesen als finanzielle Rücklage, sollte das Floßrennen einmal abgesagt werden müssen. Der übrige Teil wird an eine gemeinnützige Organisation gespendet. Hierzu gehörten in den letzten Jahren Bildungsstätten, Naturschutzvereine und Kinderbetreuungen.
Das Mammut-Floßrennen war einst der Inbegriff einer Schnapsidee. Heute ist es eines der größten Spektakel im Kanton Thurgau. Die Parade auf dem Wasser ist bis heute ein beliebter Anlass für Familien und sicherlich auch ein netter Zeitvertreib für den Muttertag. Unter den Zuschauern gibt es tatsächlich auch viele Mütter, die sich «nichts Schöneres vorstellen» können, als den «Muttertag mit der Familie am Rennen zu verbringen.»