Nationalfeiertag im Oberwallis - Ein denkwürdiger 1. August
Ein Nationalfeiertag birgt so manche Überraschung. Womit muss man rechnen und wie wird er gefeiert? Langweilig wird es mit Sicherheit nie. Dies ist ein Erfahrungsbericht über einen 1. August vor ein paar Jahren im Wallis, der noch lange in Erinnerung bleiben wird.
Montag, 31. Juli - Brig im Oberwallis
Emsiges Treiben herrscht an diesem heißen Sommernachmittag in dem beschaulichen, kleinen Städtchen mit beinahe italienischem Flair am Fuße des Simplonpasses. Eisdielen machen den Umsatz ihres Lebens. Der Bahnhof, das prächtige Stockalperschloss, jedes Haus und jedes Restaurant ist festlich mit Walliser- und Schweizerfahnen beflaggt, Fahnenketten zieren Balkongeländer und in jedem Blumenkasten steckt mindestens ein kleines Stockfähnli. Rote Lampions mit Schweizerkreuz baumeln in Schaufenstern und an den Markisen der Gastronomieterrassen. Die ganze Stadt strahlt rot und weiß. Doch sollte man sich bemühen, nicht allzu staunend in die Höhe zu starren. Die Restaurants sind damit beschäftigt, sich für den großen Tag morgen herauszuputzen. Dieses "Herausputzen" nehmen sie sehr ernst, sogar wörtlich. Aus gleich mehreren Restauranteingängen "heraus" überfluten unachtsam ausgeleerte "Putz"eimer den Trottoir. Unachtsamkeit der schlendernden Touristen wird umgehend mit nassen Füßen bestraft. Immerhin eine willkommene Abkühlung für die Füße bei dieser Hitze. Die Wahrscheinlichkeit, trockenen Fußes zu bleiben, ist vor Kiosken und Supermärkten deutlich größer. Schwärme von Vätern und Söhnen tummeln sich davor um Wühltische mit Feuerwerksbatterien, Goldregenfontänen und Raketen. Wer beim Aldi noch etwas vor dem Feiertag besorgen möchte, sollte sich nach einem Parkplatz in der näheren Umgebung umsehen, denn der halbe Parkplatz der Filiale (etwa 12 Stellplätze) ist gesperrt. Anstelle der Kundenautos stehen dort sechs Pavillons, ebenfalls mit Fahnenketten geschmückt, die den Feuerwerksverkauf vor der prallen Sonne schützen. So viel Feuerwerk sieht man in Deutschland nicht einmal in großstädtischen Supermärkten vor Silvester. Man könnte meinen, die Walliser hätten vor, gleich das ganze Tal in die Luft zu sprengen.
Bis vor wenigen Jahren, als "bodenknallendes Feuerwerk, auch Böller genannt" in der Schweiz noch erlaubt waren, haben so manche dies offenbar tatsächlich versucht. Zu dieser Zeit fand man auf den Wühltischen noch riesige, schwarze "Kanonenkugeln" mit einer langen Lunte daran. Für schlappe 100 Franken konnte man damit noch das ganze Dorf in Angst und Schrecken versetzen und die Qualität der Gebäudeverglasungen prüfen. Nach einer knappen Sekunde war dann der Spaß vorbei und der Kollateralschaden nicht selten groß. Auch Raketen waren deutlich größer als heute. Ich erinnere mich noch gut an einen ziemlich "durchgeknallten" Wirt in einem kleinen Dorf im Goms, der seine Raketen zu "bodenknallendem Feuerwerk" umfunktioniert hat, wenn ihm die Böller ausgingen. Damit sie nicht so weit wegflogen, dass man kaum noch etwas davon sieht und hört, legte er sie einfach auf den Boden und schoss sie quer über den Dorfplatz. Zu Schaden kam glücklicherweise niemand. Dass er sich selbst oft ein guter Gast war, bedarf wohl keiner weiteren Erwähnung. Seit 2009 sind in der Schweiz die gesetzlichen Bestimmungen zu Feuerwerkskörpern den europäischen angeglichen und solch gewaltige Sprengstoffanschläge unterbunden worden. Inzwischen fordern Volksinitiativen gar vollständige Feuerwerksverbote. Die Zahl ihrer Gegner sinkt konstant.
Die gesetzlichen Einschränkungen des Feuerwerks am 1. August dämpfen jedoch nur bei wenigen die Vorfreude auf den großen Tag. Mehrere Tage hat es gedauert, bis alles geschmückt, beflaggt, besorgt und herausgeputzt war, damit alle gemeinsam einen schönen Geburtstag der Schweiz haben werden. Am Abend wird es Zeit, mit der Seilbahn von Mörel hinauf zur Riederalp zu fahren, wo unser Chalet mittig zwischen der Riederalp und der Bettmeralp liegt. Beide Dörfer haben morgen ihre eigene Bundesfeier. Welche wir besuchen werden, entscheiden wir morgen einfach spontan.
Dienstag, 1. August - Riederalp und Bettmeralp
09:00
Wie am Weihnachtsmorgen liegt beinahe etwas Magisches in der Luft. Schon beim Frühstück auf dem Balkon ist es noch stiller als sonst. Nur die kleinen Elektroautos der Einheimischen und landwirtschaftliche Fahrzeuge oder Baufirmen mit Sondergenehmigung dürfen hier oben fahren, aber selbst die fahren heute nicht vorbei. Nur drei Eidechsen sitzen auf der Mauer neben dem Chalet und wärmen sich an der Sonne auf. Vielleicht schwören sie ja gerade feierlich einen Eid, wie die alten Eidgenossen am 1. August 1291 auf dem Rütli: "Wir wollen sein ein einig Volk von Echsen!" Vielleicht heißen sie ja deshalb "Eid-echsen"? Plötzlich fliegt im Chalet unterhalb des Weges die Tür auf. Ein Kind, schätzungsweise acht Jahre alt, springt mit einer kleinen Walliserfahne am Stock heraus, fängt an zu singen und übt seine Fahnenschwingerperformance. Auch im Chalet daneben öffnet sich die Tür. Zunächst kommt ein langes Alphorn waagerecht hervor. In dessen Mitte schließlich auch eine jüngere zierliche Frau, etwa halb so lang wie ihr Horn. Galant stapft sie damit ein Stück weit die Hangwiese hinunter, legt es ab, lockert sich wie eine Tennisspielerin vor dem Aufschlag, putzt das Mundstück mit einem roten Lappen ab und beginnt ihre Melodieübungen. Man sagt, ein Alphorn hätte nur zwölf Töne, dieses hat offenbar noch einige Töne mehr. Manche Töne klingen zwar eher nach Elefantenrüssel als Alphorn, aber Übung macht bekanntlich den Meister und jeder fängt mal klein an. Wir lauschen gerne ihrem mannigfaltigen Spiel.
12:00
Gegen Mittag brechen wir auf zu einer spontanen, leichten Wanderung um das Riederhorn herum. Unterwegs dorthin bewundern wir die geschmückten, kleinen Chalets der Riederalp. Wegen nasser Füße brauchen wir uns diesmal nicht zu sorgen. Die Sonne brennt vom Himmel und die Restaurants sind bereits alle herausgeputzt. Auf der Wiese beim Skilift werden die letzten Vorbereitungen im großen Festzelt getroffen.
14:30
Als wir auf dem Rückweg von der Wanderung - eigentlich war es mehr ein wunderschöner Spaziergang - wieder dort vorbeikommen, spielt bereits eine Ländlerkapelle und einige Leute haben sich zum Raclette versammelt. Wir beschließen, weiter zur Bettmeralp zu laufen, Kräfte haben wir ja noch mehr als ausreichend. Aber ein Bier haben wir uns schon verdient.
16:00
Aus dem einen Bier wurden zwei. Trifft man ein bekanntes Gesicht, darf man eine Einladung nicht ausschlagen. Um kurz vor halb Vier nahmen wir die günstige Gelegenheit wahr und die Beine in die Hand, um eine weitere Einladung nicht unhöflich ausschlagen zu müssen. Nun sind wir an der schönen Kapelle der Bettmeralp angelangt und in die gleiche Situation hereingeraten. Auf der Wiese vor der Kapelle gibt es Pavillons mit Raclette, Kaffee und Kuchen, Kinderschminken und einen Grill mit frisch grillierten Cervelats. Ein bekanntes Gesicht lädt uns auf ein Bier ein. Trifft man ein bekanntes Gesicht, darf man eine Einladung nicht ausschlagen. In der Zwischenzeit spielt ein sehr junges, aber sehr gutes Schwyzerörgeli-Trio auf. Die größten Hits der Schweizer Pop-, Rock- und Schlagergeschichte, gelegentlich ein traditionelles Stück - bei "Im Örgelihuus" und "Alperose" fangen die ersten Einheimischen an, lauthals mitzugröhlen.
19:30
Flink konnten wir der feiernden Gesellschaft entschwinden, um für ein paar Minuten etwas Ruhe, eine Rösti mit Buureworscht und ein gutes Gläsli Walliser Weißwein auf der Terrasse eines Restaurants, nur ein paar Meter entfernt zu genießen. Eine Blaskapelle zieht vorbei zum anderen Ende des Dorfes, von wo aus sie um 21:00 Uhr, gefolgt von Kindern mit selbstgebastelten Laternen zurück zur Kapelle marschieren soll. Silvesterfeuerwerk und St. Martins-Umzug an einem Tag quasi.
20:30
Kaum haben wir unsere Teller geleert, da kriecht eine hinterlistige, schwarze Wolke hinter dem Berg hervor und und hüllt die ganze Alp in bedrohliche Finsternis. Ein eiskalter Wind pfeift um die sonnengebrannten Waden. Ein gewaltiger Donner lässt schließlich auch die Feiernden an der Kapelle zum Restaurant strömen. Der Kellner empfiehlt uns, hereinzukommen, bevor drinnen kein Platz mehr frei ist. Dankbar folgen wir seiner Empfehlung und platzieren uns auf den letzten beiden vakanten Hockern an der Theke. Nur Sekunden später strömt der Flüchtlingsstrom der Feiernden herein. Die ersten noch trocken, gefolgt von völlig durchnässten Gestalten. Wo eben noch der Weg durch das Dorf war, ist nun ein reißender Bergbach. Die Kapelle und benachbarte Häuser sind im dichten Nebel verschwunden. Dem Kellner blieb nicht einmal Zeit, die Sonnenschirme auf der Terrasse zu schließen. Wem trockene Füße lieb sind, der bleibt brav in der Stube.


21:00
Eigentlich hätte nun der Laternenumzug beginnen sollen. Ein durchnässter Mitarbeiter der Seilbahn kommt in die Stube und verkündet, dass alle weiteren Feierlichkeiten zunächst verschoben werden, bis das Unwetter vorbei ist. Die verantwortlichen Organisatoren wollen bis 22:00 Uhr abwarten, ob sich das Wetter bessert. Falls nicht, fällt die ganze Feier ins Wasser. Dankbar erhält der nasse Mann einen warmherzigen Applaus der Gäste und vom Wirt einen wärmenden Schnaps, bevor er wieder mit eingezogenem Kopf aus der Stube hinaus stapft und im Nebel verschwindet. Auch wir erhalten als Entschädigung für unsere Flucht von der gemütlichen Terrasse in die volle Stube einen Schnaps. Er passt verblüffend gut zum Wein, von welchem wir uns inzwischen nochmals nachschenken ließen.
21:30
Gespannt erwarten alle die Rückkehr des Seilbahnmitarbeiters, doch die wetterbedingte Änderung des Festprogrammes schadet der Stimmung keinesfalls. Es wird gesungen, gelacht, getrunken und getrocknet. Der Wirt macht den Umsatz seines Lebens. Neben uns an der Theke sitzt ein junges Paar mit einem kleinen Baby auf dem Arm. Es schläft tief und fest.
21:50
Nebel und Regen haben sich verzogen. Aufgeregt strömen die ersten wieder an die frische Luft und kämpfen um einen Platz am Aschenbecher vor der Tür. Noch kann sich keiner entschließen, ob er schnell zahlen sollte ober lieber noch eine Runde bestellt.
21:55
Der nasse Seilbahnmitarbeiter kommt hereingestürmt und verlangt einen Schnaps. Der Wirt serviert ihm schnell den verlangten Obstbrand und nachdem der Seilbahnmitarbeiter sich diesen hinuntergestürzt hat, verkündet er feierlich: "Kommt alle mit! Es geit wiiter!" Der Wirt flucht mit unverständlichem Walliser Dialekt und mobilisiert hastig alle Kellner zum Kassendienst.
22:30
Inzwischen hat auch der Laternenumzug der Kinder samt Blaskapelle den 900 Meter langen Weg durch das Dorf zur Kapelle überwunden. Rote Laternen mit Schweizerkreuz und unzählige Pechfackeln erhellen die Wiese. Am Rednerpult vor der Kapelle begrüßt ein Mitglied des Tourismusvereins erleichtert und glücklich die Menschenmenge, bevor er einen namhaften Lokalpolitiker zur Festansprache an das Pult bittet. Der Politiker beschwört zunächst feierlich die Einigkeit der Schweiz und die wichtige Rolle des Wallis in der Eidgenossenschaft, bevor er überraschend einige politische Themen anspricht. Die Menschenmenge hört zunächst höflich zu und applaudiert. Je politischer er die Rede gestaltet, desto häufiger werden hämische Kommentare und kurze Lacher unter den Zuhörern. Irgendwann schafft es niemand mehr, ihm zuzuhören. Man unterhält sich wieder miteinander. Das Ende seiner Rede wird freudig mit Applaus zur Kenntnis genommen. Ein Chor in Walliser Tracht singt zur allgemeinen Erleichterung ein Lied in wunderschöner Harmonie, die das Publikum begeistert verstummen lässt. Direkt im Anschluss stellt sich die Blaskapelle auf, um feierlich die Walliser Hymne zu spielen. "Wallis, unser Heimatland" - Eine wunderschöne Melodie mit wunderschönem Text. Leider ist dieser hier nicht besonders gut zu verstehen. Ein großer Teil der Menschenmenge ist offenbar aus dem französischsprachigen Unterwallis angereist und singt den französischen Text, "Mon beau Valais", während die Oberwalliser den deutschen Text singen. Dieser einzigartige Klang sprachlicher Vielfalt setzt sich auch bei der anschließend gespielten Hymne der Schweiz, dem Schweizerpsalm fort. Den günstigen Moment kollektiver Andacht nach der Hymne nutzt ein älteres Mitglied der Gemeinde, um den Alpsegen zu sprechen. Kaum ist sein abschließendes "Amen" verklungen, strömen alle Menschen auf den Hügel der Kapelle und richten gespannt ihre Blicke zum Berg hinauf, von wo aus um 23:00 Uhr das große Feuerwerk abgeschossen werden soll.

23:15
Das prächtige Feuerwerk begann bereits um 22:50 Uhr mit einer Stunde Verspätung, um die Zuschauer nicht länger warten zu lassen, die schon lang genug in den Restaurants und Kneipen ausharren mussten. Auch ringsum im Tal funkeln überall Feuerwerke auf. Auf den Gipfeln der Bergketten flammen nach und nach riesige Höhenfeuer auf. Ein gewaltiges Schauspiel, wie von Tolkien im "Herr der Ringe" beschrieben, als die Orks aus Mordor angreifen. In diesem Fall wäre Italien Mordor. Hinter dem Simplonpass im Piemont erhellen kontinuierlich Gewitter die Gipfel. Im Sommer kann man dort beinahe jede Nacht Gewitter beobachten.
01:00
Irgendwie haben wir den halbstündigen Fußweg zum Chalet zurück überlebt. Vor vielen Chalets wurden noch ein paar wenige Raketen in den Himmel geschossen, doch auf halber Strecke schien plötzlich alles um uns herum zu Explodieren. "Die Orks greifen an!"
Keine Orks, sondern ein paar Kinder haben sich in den Gebüschen verschanzt und uns laut kichernd aus dem Hinterhalt von drei Stellungen aus mit Fontänen, Knallerbsen und Raketen ins Kreuzfeuer genommen. Zu Tode erschrocken rannten wir weiter, um hinter der Kurve in Deckung zu gehen, doch da hatten die Strolche mit erstaunlichem, militärischem Geschick eine weitere Stellung im Gebüsch eingerichtet. Rückzug war keine Option. Gerade als wir zum rettenden Hechtsprung vom Weg den Hang hinab ansetzen wollten, durchbrach die zornige Stimme eines Erziehungsberechtigten auf Französisch den Schlachtenlärm. Der Beschuss endete abrupt und die Bengel kamen aus den Büschen geflitzt und rannten hinauf zum Chalet, von wo aus sich deren Vater nun bei uns für seine feindseligen Früchtchen entschuldigte. Die Bilanz der Schlacht: Ein kleines Brandloch in meiner Regenjacke. Keine weiteren Verluste.