Das Öl der Murmeltiere: Ein raffiniertes Hausmittel der Natur
Die Natur der Alpen steckt voller Überraschungen. Seit Jahrtausenden bietet sie den Menschen eine reichhaltige Lebensgrundlage. Sehr schnell erkannten die Alpenbewohner den wertvollen Nutzen von Pflanzen und Tieren. Ebenso lernten sie den verantwortungsvollen Umgang mit der Natur. So darf ein ganzer Wald am Berg nicht abgeholzt werden, damit der Berg nicht Gefahr läuft, abzurutschen. Übermäßige Jagd auf eine Tierart rottet sie aus und hat verheerende Folgen für die Nahrungskette und die Biodiversität. Achtsamkeit ist also das höchste Gebot. Aus diesem Lernprozess entstanden Traditionen, die noch heute gepflegt werden, wo sie anderenorts längst in Vergessenheit geraten sind. Die Alpenheilkunde war der Medizin um Jahrhunderte voraus. Wermut gegen Bauchkrämpfe, Thymian gegen Insektenstiche, Arnica gegen Verletzungen, aber auch in der Tierwelt fand man wundersame Heilwirkungen. Funktioniert das auch noch heute in der modernen Zeit, wo es doch so viele künstliche und pflanzliche Alternativen gibt? Nachhaltigkeit war damals der Schlüssel und ist es auch heute noch. So schafft es manch alte Tradition, der Natur weniger zu Schaden, als moderne Alternativen.
Diese Lektion in Sachen Nachhaltigkeit ereilte mich bei einem meiner Sommerurlaube im Wallis. Im Winter verschwindet die meiste Natur unter einem dicken Schnee-Duvet und hält Winterschlaf, da will ich nicht stören. Deshalb ist mir der Sommer lieber. Kurz vor Ende des Urlaubs überlegt man sich noch ein paar Mitbringsel für die daheimgebliebene Familie, klappert ein paar Souvenir-Shops ab und sucht sich selbst auch ein hübsches Stück Schweiz für zu Hause. In einem solchen, bemerkenswert gut sortierten Souvenir-Shop, der überwiegend regionale Produkte anbietet anstatt billigen Made-in-China-Ramsch, beginnt meine Lektion.
Wellness für wilde Nagetiere
Handgemachten Schmuck und Dekoartikel, Arvenkissen, Teemischungen aus regionalen Wildkräutern, Kleidung, Spielzeug-Seilbahnen für Kinder und allerlei hochwertige Souvenirs bietet Natalie Kummer in ihrem kleinen und feinen Shop auf der Riederalp an. Da findet man immer etwas besonderes. Am Regal für Wildkräutermischungen und andere Naturprodukte fällt mein Blick auf eine kleine, schwarze Dose mit feuerrotem Deckel: "Murmeli-Kräutersalbe - wärmend - 100% natürlich." Verwundert faltet sich meine Stirn zusammen wie ein Schwyzerörgeli. Pferde-Salbe ist mir bereits bekannt. Ursprünglich hat man damit Pferde behandelt. Aber warum sollte jemand ein Murmeltier einschmieren wollen? Neben der Salbe steht auch noch eine kleine Flasche "Murmeli-Massage-Öl". Murmeltiere nehmen von Touristen gerne Möhren und Nüsse an. Lassen sie sich etwa auch gerne massieren? Mit meditativen Panflötenklängen, Räucherstäbchen und "Murmeli-Massage-Öl"? Die bildliche Vorstellung lässt mich unweigerlich schmunzeln und meine Stirn entfaltet sich allmählich wieder. Eine leichte Drehung der Dose erklärt einiges: "Hochwertige Salbe mit Schweizer Murmeltieröl und kraftvollen Alpenkräutern. Nachhaltig wohltuende Tiefenwärme für Rücken, Muskeln und Gelenke." Die machen keine Witze. Was auch immer dieses Murmeltieröl sein soll, es muss irgendwie aus dem Murmeltier kommen und da, in dieser Salbe drin sein. Steckt man die armen Murmelis in eine Presse, um das Öl aus ihnen herauszuquetschen? Und dieses Öl soll "für Rücken, Muskeln und Gelenke" gut sein? Also, eine Dose bitte für die Oma. Mal sehen, ob es ihre Knieschmerzen lindert.
Während ich nach meinem Einkauf noch etwas über die Hügel wandere, will mir die Salbe nicht mehr aus dem Sinn. Murmelis - diese putzigen kleinen Lieblinge der Touristen und vor allem der Kinder. Auch ich hatte als kleiner Bueb ein großes Plüsch-Murmeli, wie es sie in jedem Souvenir-Shop hat. Wer gut geschlafen hat, hat "geschlafen wie ein Murmeltier". Auch auf der Riederalp gibt es einen "Murmeltier-Lehrpfad", wo man sie beim Fressen, Spielen und Sonnen beobachten kann, wie sie aus dem Nichts irgendwo auftauchen und nach einem lauten Pfiff genau so schnell wieder verschwinden. Will ich wirklich wissen, wie das Murmeli in die Salbe kommt? - Natürlich will ich das!
Natur hautnah am eigenen Leib erfahren
Abends im Chalet macht sich der Muskelkater vom Wandern bemerkbar. Das ist die Gelegenheit, die Salbe selbst zu testen, bevor ich der Oma am Ende noch etwas andrehe, das nicht einmal funktioniert. Die Salbe duftet erstaunlich gut. Das muss von den gesunden Alpenkräutern kommen. Kaum vorstellbar, dass etwas vom Murmeltier nicht stinkt. Schon kurze Zeit später war von meinem Muskelkater kaum noch etwas zu spüren. Am nächsten Tag wanderte es sich problemlos und ohne Wehwehchen. Keine Spur mehr von Muskelkater. Also, nochmal zum Souvenir-Shop und noch eine neue Dose für die Oma, bitte. Doch bei aller Begeisterung blieb immer noch die Frage: Wie kommt das Murmeli in die Salbe und warum ist das so wichtig für eine Salbe? Noch ein Blick auf die Dose: "puralpina ag, CH-3714 Frutigen". Perfekt! Das liegt direkt am Weg auf der Heimreise, zwischen dem Lötschbergtunnel und dem Thunersee im Berner Oberland. Eine gute Gelegenheit die Heimreise noch ein wenig hinauszuzögern.
Den letzten Urlaubstag habe ich größtenteils damit verbracht, die Murmeltiere in freier Wildbahn zu beobachten, natürlich aus sicherer Distanz, damit sie mich nicht "verpfeifen" und sich verstecken. Kleine Ölbohrtürme im Murmeli-Land konnte ich nicht erspähen, also bohren sie auch nicht nach "Murmeltieröl". Je länger ich sie beobachte, desto mehr nimmt es mich wunder, was es mit der Salbe auf sich hat.
Nur mal kurz zu Puralpina
Von Kandersteg aus etwa zehn Minuten Fahrt und man nähert sich allmählich dem Eisenbahnviadukt bei Frutigen. Kurz davor, auf der rechten Seite der Staatsstrasse ein Schild: "Puralpina Shop geöffnet". Zugegeben, ich hätte eine kleine bis mittelgroße Fabrik erwartet, aber stattdessen steht dort, direkt an der Hauptverkehrsstraße im Kandertal, eine imposante, moderne, zweistöckige "Holzhütte" mit großen Fenstern. Zuerst dachte ich, dass es nur ein Puralpina-Shop ist. Tatsächlich beherbergt dieses Gebäude aber auch noch die Büroräume, die Produktion, das Kühllager und noch zwei Mietwohnungen. Alles an einem Ort. Da fängt die Nachhaltigkeit schon an: Das Bauholz für das Gebäude kommt aus der Schweiz und der Strom für die Produktion von der großen Photovoltaik-Anlage auf dem Dach. Transportwege fallen fast nur an, um die Verkaufsstellen zu beliefern. Puralpina setzt auf eine einheimische Basis für Naturkosmetik anstatt auf Rohstoffe aus fernen Ländern.



Andreas Schmid ist der Vater dieses Unternehmens. 1992 produzierte er seine erste Murmeli-Kräutersalbe. Wider den Zeitgeist beharrte er darauf, ausschließlich natürliche Zutaten zu verwenden. Sein Schwiegervater, der unter einer schweren Polyarthritis litt, fand die einzige Linderung im Murmeltieröl. Das brachte Andreas auf die Idee, selbst eine Salbe daraus herzustellen. Eine moderne Produktionsstätte, wie die heutige, hatte er damals noch nicht. Ein alter, umgebauter Kuhstall und ein Glühweintopf waren alles, was er brauchte. Erst 2016 wurde der moderne Holzbau errichtet und seit 2012 leiten seine beiden Söhne, Silvan und Reto, das Unternehmen. Genau wie ihr Vater beharren auch sie auf 100% natürlichen Zutaten. Neben wärmender und kühlender Murmeli-Kräutersalbe produzieren sie heute auch noch Massageöle, diverse Hautsalben, Deo-Cremes und andere, rein "vegetarische" Naturkosmetika sowie Wurst- und Käsehobel aus Holz. Naturkosmetika und Wursthobel? Wie passt das zusammen? Die Erklärung klingt einleuchtend: Für die Murmeli-Produkte werden Wildtierfette verwendet. Das Wildfleisch, zum Beispiel eines Hirsches, wird zu einer Salami oder Trockenfleisch verarbeitet. Um diese Wurst fein zu schneiden, braucht man einen guten Wursthobel.
v.l.n.r.: Silvan, Andreas und Reto Schmid

Hallali, Murmeli!
"Wildtierfette" - Heißt das etwa, dass auch Murmelis gejagt werden? - Genau das heißt es. Im gesamten Alpenraum gilt Murmeltierfleisch als Delikatesse. In der Schweiz findet man sie jedoch recht selten auf Speisekarten. Das liegt einerseits daran, dass sie sich das halbe Jahr zum Winterschlaf in ihren Tunneln verkriechen, andererseits ist die Jagd in der Schweiz streng durch Bund und Kantone reglementiert und Murmeltiere dürfen nur während drei Wochen im September in bestimmten Gebieten gejagt werden. So putzig die kleinen Nager auch sein mögen, so viele Probleme verursachen sie auch, wenn sie sich unkontrolliert vermehren. Der größte natürliche Feind der Murmeltiere ist der Steinadler, daneben auch der Fuchs. Doch die wachsamen Nager sind sehr geschickt darin, Gefahr frühzeitig zu erkennen und sich gegenseitig davor mit lauten Pfiffen zu warnen. Noch ehe der Feind ein Murmeli fokussiert hat, ist meistens schon die ganze Murmelfamilie in ihrem Tunnelsystem unter der Erde verschwunden. Das erschwert auch die Jagd auf die Murmeltiere. Durch ihre Fressfeinde haben sie jedenfalls keine großen Verluste zu fürchten.
Baumwurzeln wären ihnen beim Graben ihrer Tunnel nur im Wege, weshalb sie meist nur überhalb der Baumgrenzen vorkommen, oder auf gerodeten Flächen knapp darunter. Das Problem: Diese baumfreien Gebiete sind oft Alpwirtschaftsgebiete. Untergrabene Alphütten, Kuhweiden, Strommasten und Schutzmauern, die Berghänge stabilisieren, werden gefährdet, unachtsame Wanderer treten in tiefe Tunneleingänge und verletzen sich dabei. Besonders den Kühen werden die Murmeltiere gefährlich. Eine Kuh, die in einen solchen Eingang tritt oder in einen Tunnel einbricht, verletzt sich meistens dabei und kann danach nicht mehr laufen. So kommt sie am Nachmittag auch nicht mehr aus eigener Kraft von der Alp hinunter in den Stall. Da hilft in der Regel nur noch die Rega (Schweizerische Luftrettungswacht) mit ihren Helikoptern. Die Kuh wird unter den Heli an die Seilwinde gehängt und möglichst sanft zum Stall geflogen, wo der Tierarzt schon wartet. Das droht übrigens auch so manch unvorsichtigem Wanderer, je nach Schwere der Verletzung. Die Kosten einer solchen Bergung sind vorstellbar enorm. Vergrämungsversuche der Murmeltiere aus solchen Gebieten sind in der Regel erfolglos. Die einzige Möglichkeit, den Bestand zu regulieren und Flurschäden zu verhindern, ist die Jagd.



Wunderfett?
Die Jagd ist also ein wichtiges Werkzeug zur Bestandsregulierung, die dem Erhalt und der Förderung der Biodiversität dient. Dabei ist streng vorgegeben, wieviele Tiere welcher Art, zu welcher Zeit, an welchem Ort und vor allem von welchem Jäger erlegt werden dürfen. Aus dieser kontrollierten Schweizer Jagd stammen die Wildfette von Puralpina. Würde man keine Salben daraus herstellen, müsste man es entsorgen, denn genießbar ist es wegen seines strengen Geschmacks ganz und gar nicht. Somit ist Murmeltierfett quasi ein "Abfallprodukt" der Jagd.
Glaubt man der traditionellen Alpenheilkunde, ist Murmeltierfett ein wahres Wundermittel. Alfred Brehm bemerkte 1863 in seinem Lexikon, "Brehms Tierleben", was die Alpenheilkunde dem Murmeltierfett nachsagt:
"Dem Alpenbewohner ist das kleine Thier nicht allein der Nahrung wegen wichtig, sondern dient auch als Arzneimittel für allerlei Krankheiten. Das fette, äußerst wohlschmeckende Fleisch gilt als besonderes Stärkungsmittel für Wöchnerinnen; das Fett soll Schwangeren das Gebären erleichtern, Leibschneiden heilen, dem Husten abhelfen, Brustverhärtungen zertheilen; der frisch abgezogene Balg wird bei gichtischen Schmerzen angewandt, und dergleichen mehr."
Man beachte, dass zu Brehms Zeiten die Pharmazie und die Medizin bestenfalls noch in den Kinderschuhen steckten. In naturfernen Städten waren Seuchen noch an der Tagesordnung und schon kleinste Verletzungen endeten nicht selten tödlich. In ländlichen Gebieten, wo man Hilfe in der Natur suchte, war die Lebenserwartung entsprechend höher. Wissenschaftliche Untersuchungen zur möglichen Heilwirkung des Murmeltierfettes wurden erst in den 1980er-Jahren am Institut für Pharmazeutische Biologie der Universität München unternommen. Das Ergebnis war verblüffend: Murmeltieröl enthält dem Cortison ähnliche Wirkstoffe (Glucocorticoide) und das Gestagen Progesteron, das notwendig ist, um eine Schwangerschaft zu erhalten. Die Konzentration der Corticoide im Murmeltieröl ist sogar so hoch wie in pharmazeutischen Cortisonsalben. Somit wäre Murmeltieröl geeignet für die Behandlung von rheumatischen Beschwerden, Entzündungen der Haut und Muskel- und Gelenkbeschwerden. Gleichzeitig sind diese Glucocorticoide auch noch antiallergisch und lösen keine Immunreaktionen aus. (Wagner H., Nusser D. Nachweis von Corticosteroiden im Fett von Dachs und Murmeltier. Z. Naturforsch, 1988, 43b, 631-633) Da die Konzentration der Wirkstoffe allerdings von Tier zu Tier schwankt, kann Murmeltieröl nicht als Arzneimittel verkauft werden.
Die Antwort auf die Frage aller Fragen: Wie kommt das Murmeli in die Dose?
Die Wissenschaft bestätigt demnach die Wirksamkeit des Murmeltieröls, aber wie kommt man an dieses Öl? Eine Presse für Murmeltiere braucht man zum Glück nicht. Das ausgelöste Fett der Murmeltiere wird in einem großen Topf ausgelassen, praktisch wie Speck in der Pfanne, damit es bei Raumtemperatur als Öl flüssig bleibt und sich weiter verarbeiten lässt. Je ausgewachsenem Murmeltier erhält man bis zu einem Liter Öl. In Puralpinas Murmeltiersalben hat das Öl etwa 5-10% Anteil, was völlig ausreicht. Hinzu kommen noch etwas Gamsfett für die Konsistenz, Dachsfett, Olivenöl, ätherische Öle und Kräuter, um die Anwendungsmöglichkeiten zu erweitern und der Salbe einen angenehmen Duft zu verleihen. Nicht, dass sie sonst schlecht riechen würde - Murmeltieröl ist, hochwertig verarbeitet, so gut wie geruchsneutral.
Dass Murmeltieröl nicht als Arzneimittel verkauft werden kann, macht Purpalpina nichts aus und ist auch nicht Puralpinas Absicht. Seit über 500 Jahren ist Murmeltieröl der Alpenheilkunde bekannt. Es geht also um eine uralte Tradition. Naturkosmetika gibt es viele, aber nachhaltiger und biologischer geht fast nicht. Keine Zutat, wie Kokosöl oder Shea-Butter, die meistens Bestandteil pflanzlicher Naturkosmetika sind, muss um den halben Globus geschifft werden, erklärt mir Silvan Schmid. Keine qualvollen Tierversuche werden unternommen um Wirksamkeiten zu testen und kein Tier wird gezüchtet und bis zum Schlachthof eingesperrt. Die Murmelis genießen ihr Leben artgerecht in Freiheit. Alle Zutaten wachsen quasi vor der Haustüre und vor allem wachsen sie nach. Das ist genau das Prinzip der Nachhaltigkeit, wie es seit Jahrhunderten in den Alpen überliefert wird. Weder durch die Beschaffung, noch durch die Verarbeitung von natürlichen Rohstoffen wird so der Natur geschadet.
Neben dem Hauptstandort in Frutigen, betreibt Puralpina auch noch Verkaufsstellen in Zermatt und Luzern. Ein Besuch ist absolut empfehlenswert. Man lernt nicht nur etwas über Nachhaltigkeit und die Alpenheilkunde. Man lernt, die Natur der Alpen mit anderen Augen zu sehen, sie zu verstehen, zu hegen und pflegen und vor allem, ihre Nutzen zu erkennen. Manchmal muss man einfach mal "graben wie ein Murmeltier", wenn man etwas Merkwürdiges entdeckt. Ich hätte auch einfach eine Postkarte kaufen können oder einen Aufkleber, ein T-Shirt mit Kuheuter-Motiv oder eine Kappe mit Schweizerkreuz - "made in China". Im richtigen Souvenir-Shop nimmt man viel Wertvolleres mit nach Hause: Eine gute Lektion über Nachhaltigkeit, Murmeltiere, die Natur und ein gutes Mittel gegen meine Wehwehchen.
Übrigens: Die Oma war auch zufrieden.