Geranien – Bei so viel Swissness verblasst sogar das Matterhorn

Veröffentlicht von René

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Von Schaffhausen bis ins Tessin, von Genf bis Graubünden - in der ganzen Schweiz zieren sie Fenster, Balkone, Brücken, Bauernhöfe, Beizen und Regierungsgebäude. Sie prägen das typische Bild der Schweiz und doch nimmt man sie kaum wahr, weil sie so selbstverständlich erscheinen. Kaum eine Landschaft wird so oft in Modelleisenbahnen nachgebildet, wie die der Schweiz. Im Handel erhältliche Modellhäuser werden von den Herstellern selbstverständlich ebenfalls mit Geranienkästen ausgestattet.
Es gibt einfach kein Entkommen; sie ist überall – selbstverständlich. Aber was sollte daran, außer ihrer leuchtenden Farbe, meistens der Nationalfarbe entsprechend Rot, so bemerkenswert sein? Sie ist doch nur irgendeine Pflanze aus irgendeinem Baumarkt, Supermarkt oder irgendeiner Gärtnerei, die irgendjemand in seinen Blumenkasten gepflanzt hat: Die Geranie.

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Geranien überall
Üppige Geranien am imposanten Bauernhaus im Emmental.
Dezente Geranien am kleinen Chalet im Wallis. - © René Buss
Künstliche Geranien am Modellhaus von ©Viessmann-Kibri


Vom Modeschmuck zum Nationalsymbol?

Die einen lieben Geranien als hübschen Fassadenschmuck, die anderen hassen sie als Inbegriff der Spießbürgerlichkeit. Die meisten hinterfragen sie nicht und haben sie einfach im Blumenkasten, weil sie gefühlt immer schon überall war und zum Haus gehört wie die Haustür oder das Dach. Nicht gerade wenige hingegen machen die Geranienkultur der Schweiz zum Politikum und verknüpfen gar das Schicksal der Eidgenossenschaft symbolisch mit der Existenz dieses gewöhnlichen Gewächses. Medien und Politik, ob links, rechts, oder mittig ausgerichtet, mahnen dessen angebliche Bedeutung an. Als «Schweizer Symbol» bezeichnet der SRF die Geranie, als «Nationalblume» die Basler Zeitung, gar als «Integrationswunder» die Neue Zürcher Zeitung. Schon das Satiremagazin «Postheiri», das dem Kanton Thurgau den Scherznamen «Mostindien» zuschrieb, benannte den Glarus Mitte 19. Jahrhundert in «Schabzigeranien» um. Darin spielte der Postheiri natürlich einerseits auf den Berühmten Glarner Käse, den Schabziger an, andererseits auf die damals neue Mode, sein Haus mit Geranien zu schmücken, die besonders im ländlichen Glarnerland zunächst großen Anklang fand.

Geranien im Goms, Wallis
© René Buss
© René Buss
© René Buss


Der letzte Schrei aus Zürich – oder wer hat’s erfunden?

Heute wird die Geranie überwiegend als Bezug zum Landleben betrachtet, doch ihre Geschichte beginnt in einer Stadt. Auslöser des Geranium-Hypes war die wohlhabende Gesellschaft der Stadt Zürich im frühen 18. Jahrhundert. Der berühmte Mediziner und Zürcher Stadtarzt Johann von Muralt studierte neben seinem Beruf leidenschaftlich die Welt der Pflanzen. 1715 pflanzte er in seinem großzügigen Lustgarten Stecklinge der aus Südafrika stammenden «Perlagonium zonale», wie die Geranie botanisch korrekt heißt. Muralts Gäste waren fasziniert von den kräftigen Farben der Blüten und wie pflegeleicht sie prächtig gedeihen. Wenig später verschönerte jeder von Rang und Namen in Zürich sein Haus damit. Im Laufe der Zeit war die Geranie so zahlreich nachgezüchtet, dass auch weniger wohlhabende Stadtbürger sie sich leisten konnten und man sie als Geschenk in ländliche Gegenden mitbrachte. Dort schätzte man sie auch wegen ihrer nützlichen Eigenschaft, Fliegen fernzuhalten. Ihr Duft schien den lästigen Insekten wohl zu missfallen. Ein hübsches Aussehen reichte damals auf dem Land nicht aus. An einem großen Landhaus kamen bei entsprechend großer Anzahl der Fenster auch viele Blumenkästen zum Einsatz, die alle gepflegt und gegossen werden mussten. So konnte man auch die Kinder des Hofes für einige Stunden gut beschäftigen, oder bei schlechtem Betragen gar damit bestrafen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war das Geranium in der ganzen Schweiz verbreitet.

Fliegenfrei wohnen auf dem Land

Obwohl sie über Zürich in die Schweiz kam, reklamiert die Stadt Bern die Geranie für sich. 1897 organisierte der «Verschönerungsverein der Stadt Bern» einen ersten Geranien-Wettbewerb und prämierte die schönsten Fenster der Stadt, um die Bürger zum Anpflanzen der roten Blumen anzuregen. Seit den 1950er Jahren lockt die Stadt Bern im Frühling mit dem «Geraniummärit», dem ältesten und größten Markt der Schweiz für Geranien, unzählige Besucher aus der ganzen Schweiz an. 2016 nannte sich Bern sogar «Geranium City». Den ganzen Sommer lang wurde die Stadt noch üppiger als üblich bepflanzt und Museen widmeten dem Geranium ganze Ausstellungen.

Geranien in der Stadt - © René Buss
Geranien auf dem Land - © René Buss


Geranium politicum - Unser Dorf soll schöner werden!

Anreize zur Anschaffung von Geranien werden heute überall geschaffen. Manchmal sogar mit recht skurrilen Methoden. Geranien sind pflegeleicht, man braucht keinen grünen Daumen und man kann sie überall günstig nachkaufen, sollte doch mal eine eingehen. Man sollte meinen, dies sei Anreiz genug, doch so manche Leute sehen das anders. Leidenschaftliche Hobby-Geraniengärtner gründen Vereine, um sich fachlich über Pflege und Anzucht auszutauschen und um Mitbürger und Gemeinde in Geraniumfragen zu beraten. Manche Vereine gehen gar so weit, dass sie im ganzen Dorf von Haus zu Haus ziehen, um Geranienverweigerer zur Rede zu stellen und ihnen die «Nationalblüemli» ans Eidgenossenherz zu legen.

Apropos «Nationalblume»: Tourismusvereine und Unternehmen bewerben ihre «Swissness» für gewöhnlich mit Edelweißblüten. Sogar die große Schweizer Airline nennt sich «Edelweiss» und nicht «Geranium Air» oder ähnlich. Die Geranie ist eben keine «heimische» Pflanze in der Schweiz wie das Edelweiss. Heute ist die Geraniennachfrage in der Schweiz so groß, dass es dort nicht genügend Platz gibt, um genügend neue Pflanzen für den Markt zu produzieren. Die Anzucht der Stecklinge erfolgt meist in Kenia, wo man sich den Energieaufwand für Treibhäuser sparen kann. Von dort aus werden die Stecklinge nach Deutschland geschickt, wo sie zu verkaufsfertiger Blüte aufgezogen und schließlich in die Schweiz geliefert werden.

Bei so viel «Swissness» verblasst sogar das Matterhorn.

Warum soll ausgerechnet die Geranie das Nationalsymbol sein? Wer jetzt denkt, die rechtskonservative Ecke propagiert allein den Symbolstatus der Geranie, hat weit gefehlt. Auch die linke Ecke hat ihr eine Bedeutung zugewiesen; Nicht als charakteristisches Merkmal für die schöne, bürgerliche, konservative und gepflegte Schweiz, sondern als Symbol für Weltoffenheit und eine gelungene Migrationspolitik. Während ihrer Eröffnungsrede zu einer Ausstellung im Rahmen der «Geranium City» bezeichnete die SP-Politikerin Ursula Wyss die Geranie als «Exotin», die es geschafft habe «sich bei uns einzurichten und unsere Herzen zu erobern». Das sei «nur möglich, wenn einem die Chance gegeben wird, sich zu entfalten und sich wohlzufühlen und man akzeptiert, gefordert und gefördert wird.» Vom spießigen Bünzli-Blüemli zur weltoffenen Integrations-Ikone ist der Weg offenbar kürzer, als man denkt. Das hat nicht einmal das Matterhorn geschafft, das bereits vor 45 Millionen Jahren aus Afrika mit der sogenannten Plattenwanderung in die Schweiz kam. Man sieht es im Gegensatz zur Geranie auch nur im Wallis, wenn es ausnahmsweise mal nicht von Wolken verdeckt ist.

Repräsentatives Geranium
Geranien an der Seilbahn - © René Buss
Geranien an der Stammbeiz - © René Buss
Geranien am Stockalperschloss - © René Buss

 

Eine Schweiz ohne Geranien

Es ist doch nur eine Pflanze. Muss man ihr gleich eine höhere Bedeutung zuschreiben, oder darf sie auch einfach nur ein schöner Schmuck sein, der das Auge erfreut? Braucht man wirklich solch merkwürdige «Anreize», um sie zu pflanzen? Können Sie sich eine Schweiz auch ohne Geranien-Panorama vorstellen oder verschwände mit ihr auch gleich der hübsche Postkartenzauber? Eine Kapellbrücke in Luzern ohne ihre 278 Geranienkästen im Sommer – kaum vorstellbar. Alte Bauernhäuser ohne Geranien an den Fenstern – eine Geschmacksfrage. Jeder wie er mag. So viele Geschmäcker und Meinungen es zur Geraniumfrage gibt, so verwundert es schon fast, dass darüber noch kein Streit ausgebrochen ist, der die Grundfeste der Eidgenossenschaft erschüttert. Es wird im Großen wie im Kleinen debattiert und man toleriert die Ansicht der Gegenpartei, ohne sie dafür auf persönlicher Ebene zu verachten. Nebenbei tauscht man sogar noch Tipps zur Aufzucht und Pflege von Geranien aus. Wird das Geranium am Ende etwa auch noch ein Symbol für Toleranz und Demokratie?

278 Geranienkästen an der Kapellbrücke Luzern
Surfen unter Geranien auf der Aarewelle in Thun - © René Buss

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