«Pschuuri» in Splügen - Ein Dorf sieht schwarz
Eingebettet in den majestätischen Schweizer Alpen, auf etwa 1.460 Metern über dem Meeresspiegel, liegt das idyllische Dorf Splügen im Kanton Graubünden. Mit nur wenigen hundert Einwohnern strahlt der Ort einen unnachahmlichen, authentischen Charme aus. Die Region, nur einen Steinwurf von der italienischen Grenze entfernt und umgeben von den imposanten Adula-Alpen, ist ein wahres Paradies für Naturliebhaber und Outdoor-Enthusiasten. Über 400 Kilometer Wanderwege laden dazu ein, gemütlich durch die Alpen zu streifen, während erfahrene Wanderer die Herausforderung des Piz Tambo (3.279 m.ü.M.) suchen. Mountainbiker kommen auf den 70 Kilometern Trails rund um den Splügenpass voll auf ihre Kosten. Hier findet jeder seinen Platz in der Natur. Doch nicht nur die atemberaubende Umgebung macht Splügen besonders, sondern auch das Dorf und die Menschen selbst. Abseits seiner historischen Bedeutung und gut erhaltenen Gebäuden pflegen die Bewohner mitunter recht merkwürdige Bräuche, die besonders sorgfältig und liebevoll gepflegt werden. Einer dieser Bräuche ist das «Pschuuri».
Die Ruhe vor dem Sturm
Der Aschermittwoch in Splügen beginnt wie jeder andere gewöhnliche Tag, zumindest fast. Doch schon am Vormittag erwacht das Dorf zu einem bunten Treiben, das auf einen über 700 Jahre alten Brauch zurückgeht. Wie bei vielen schweizerischen Traditionen, spielen auch hier die Kinder eine wichtige Rolle. Früh am Morgen machen sie sich für den Tag bereit – mit roten Wangen und schwarz aufgemalten Schnäuzern. Mit einem Korb in der Hand, ziehen sie dann in Gruppen durch die Straßen. An jeder Haustür klingeln sie und rufen: «Pschuuri, Pschuuri Mittwuchä, äs Eischi oder äs Meitschi». Doch anstelle der geforderten «Eischi» (hochdt.: «Eier») oder «Meitschi» (hochdt.: «Mädchen») erhalten die Kinder süße Leckereien, Mandarinen und Nüsse. Mit dem Korb voller Köstlichkeiten kehren sie gegen Mittag nach Hause zurück, denn die Hauptattraktion des Tages steht noch bevor.
Die Vorbereitungen
Zu dieser Zeit bereiten sich die «Pschuurirolli» auf ihre Jagd vor. In Lumpen oder alten Militäruniformen, die sie mit Fellstücken verziert haben, machen sie sich auf den Weg. Ihre erste Aufgabe: Die Zubereitung der geheimen schwarzen Paste. «Pschuuri» bedeutet so viel wie «schwärzen», und genau das ist das Ziel der «Pschuurirolli». Das ganze Dorf wird in die Jagd einbezogen: Frauen unter 35 Jahren und Kinder sind die anvisierten «Opfer» des Tages. Die schwarze Paste besteht hauptsächlich aus Asche und Fett, wobei die genaue Rezeptur ein wohlgehütetes Geheimnis bleibt. Sicher ist nur, dass die Paste schlecht abwaschbar sein soll. Schließlich sollen die Opfer auch eine Erinnerung an die Jagd haben.
Die Pschuurirolli tragen neben ihrer Fellkostüme auch eine sogenannte «Larve», eine Fellmaske, die ihre Identität während der Jagd verschleiert. Um ihre Hüfte lärmt ein Schellengürtel, der für die Pschuurirolli eher ein Handicap als ein Vorteil ist: Das Klingen der Schellen verrät ihre Position, und die Opfer können rechtzeitig fliehen. Doch auch der schnellste Fluchtversuch schützt nicht immer vor dem Schwärzen.


Die Jagd beginnt
Pünktlich um 13 Uhr geht es los. Die Pschuurirolli schwärmen aus und rennen durch das Dorf auf der Suche nach ihren ersten Zielen. Die fliehenden Opfer setzen alles daran, sich zu verstecken, oder zu tarnen. Einige geben im Laufe des Tages freiwillig auf, weil sie die Spannung nicht mehr aushalten. Einmal gesichtet, wird die Jagd aufgenommen: Die Pschuurirolli hetzen ihren Opfern hinterher, packen sie, ringen sie zu Boden und beginnen mit dem Schwärzen. Ein regelrechter Kampf entfaltet sich, wobei alle Beteiligten darauf achten, sich nicht zu verletzen. Ein Griff in die Brusttasche und die schwarze Paste landet auf Gesicht, Hals und Haaren des Opfers. Lachen und Jubeln begleitet die Jagd. Manchmal gibt es noch ein Erinnerungsfoto mit dem Pschuurirolli des Tages. Zu früheren Zeiten half Pschuuri auch bei der Partnersuche: Wenn eine Dame den sie verfolgenden Pschuurirolli ansprechend fand, wehrte sie sich noch ein bisschen mehr – schließlich war man auf den engen Körperkontakt aus. Gelegentlich ist diese merkwürdige Art, das Herz einer Dame zu erobern auch noch heute der Fall. Die Jagd endet erst bei Sonnenuntergang. Bis dahin haben die Pschuurirolli das gesamte Dorf durchkämmt, und nahezu jede Frau und die Kinder des Dorfes geschwärzt.





Gemeinsamer Ausklang zur Steigerung der Fruchtbarkeit
Nach der Jagd ist es Zeit für einen schnellen Wechsel. Die Pschuurirolli legen ihre Fellkleidung ab und schlüpfen in die Masken der «Männli» und «Wiebli». Hinter diesen Masken stecken trotz der Bezeichnung «Wiebli» nur Männer. Die Jungmänner, die zuvor schon die Pschuurirolli waren, bekommen hierbei Unterstützung von weiteren Mitgliedern der Jungmänner. Sie ziehen nun, wie bereits die Kinder am Morgen, von Haus zu Haus, um mit den Worten «Pschuuri, Pschuuri Mittwuchä, äs Eischi oder äs Meitschi» um eine Spende zu bitten.
Am späten Abend, nachdem die Spenden gesammelt sind, geht es in die Küche eines Wirtshauses, wo Eiersalat und der «Resimäda», ein spezieller Trank aus rohen Eiern und Rotwein, zubereitet werden. Auch wenn das Rezept etwas abstoßend klingen mag, genießen viele diesen Trank und die damit verbundene Tradition. Schließlich wird alles zusammen in einer fröhlichen Runde verzehrt. Nicht nur die Jungmänner, sondern auch die geschwärzten und ungeschwärzten Dorfbewohner sind eingeladen, den Tag gemeinsam ausklingen zu lassen. Die Feierlichkeiten ziehen sich oft bis tief in die Nacht. Früher galten Eier als ein Zeichen der Fruchtbarkeit, so sollte der Verzehr der eihaltigen Speisen die Fruchtbarkeit von Mensch und Land sowie die Heiratsfähigkeit der Jungen fördern. Heute ist das gemeinsame Essen ein Moment des Zusammenkommens und der Gemeinschaft.
«Pschuuri» ist ein Highlight im Kalender des kleinen 400-Seelen-Dorfes Splügen. Und wie es sich für ein solches Dorf gehört, werden an diesem Tag nur Einheimische geschwärzt und die Pschuurirolli wissen ganz genau, wer in diesem Jahr auf der Liste der zu schwärzenden Opfer steht.