Die letzten Wanderhirten der Schweiz
Die Schweizer Bergwelt ist mehr als nur Wanderparadies, Skipisten und Postkartenidylle. Zwischen den Gipfeln prägen große Schafherden das Bild der Alpenlandschaft. Doch was wäre eine Herde ohne ihren Hirten? Schon in Johanna Spyris «Heidi» erscheint die Schweiz als heile, freie Welt der Berge und die Hirten als stille Wächter über Tier und Tal; eins mit der Natur und dem treuen Hund an ihrer Seite. Hinter dieser romantischen Vorstellung steckt ein uralter, heute kaum noch ausgeübter Beruf.
Die letzten ihrer Art
Nur noch 25 bis 30 Wanderherden ziehen derzeit durch die Schweiz. Genaue Zahlen fehlen, da die Bewilligung kantonal und nicht bundesweit geregelt ist. Laut Angaben der Kantone wurden zuletzt rund 40 Genehmigungen ausgestellt, wobei manche Herden kantonsübergreifend unterwegs sind. Die tatsächliche Zahl dürfte daher etwas niedriger liegen. Sicher ist: Die Bedingungen für die Wanderschäferei sind schwieriger denn je. Bevölkerungsdichte, zunehmende Zersiedelung, strenge Vorschriften und der Wettbewerb um landwirtschaftliche Flächen setzen dieser traditionellen Lebensform stark zu.
Dabei ist die Geschichte der Wanderhirten in der Schweiz uralt: Archäologische Funde belegen, dass bereits um 5000 v. Chr. im heutigen Wallis Herden bis in Höhenlagen von über 2.700 Metern getrieben wurden. Das dahinterstehende System nennt sich «Transhumanz», eine saisonale Wanderweidehaltung, bei der die Tiere im Frühling und Herbst in den Ebenen und im Sommer auf einer Alp grasen. Auch im Winter ziehen die Herden weiter, denn Schafe sind kälteresistent und finden selbst unter Schnee noch Nahrung. Diese Form der Tierhaltung entstand aus klimatischen Notwendigkeiten: Im Sommer waren die Täler oft zu trocken, während die Höhenlagen saftig und kühl blieben. So entstanden auch die typischen Schweizer Alpweiden, welche die Schweizer Kulturlandschaft bis heute prägen.


Schafe weiden auch im Winter
Traditionelle Bewirtschaftungsmethoden sind oft umweltfreundlicher als moderne. Im Gegensatz zur Massentierhaltung ist die Wanderschäferei artgerecht und fördert die Biodiversität auf den Weiden. Durch das regelmäßige Abgrasen werden dominante Gräser zurückgedrängt, lichtbedürftige Arten erhalten mehr Raum. Die Beweidung hat auch positive Effekte auf Felder: Ohne Maschinen werden diese gedüngt, Mäusegänge verschlossen und überschüssige Vegetation ganz natürlich entfernt. So können die Felder anschließend direkt bestellt werden. Auch die Tiere profitieren: In freier Haltung bewegen sie sich viel und bauen so mehr Muskeln als Fett auf. Dadurch, dass sie im Vergleich zu industriellen Futtermitteln kalorienarme, dafür gesunde Gräser zum Fressen bekommen, dauert es allerdings auch länger, bis sie das gewünschte Schlachtgewicht erreichen. So werden die Lämmer bis zu 10 Monate alt, bis sie schlachtreif sind. Dafür ist ihr Fleisch dann um so geschmackvoller und entsprechend sehr begehrt.
Wanderherden sind vor allem im Mittelland und im Jura unterwegs, entweder während der Sömmerung oder auf Winterweiden. Meist handelt es sich um junge Lämmer, die noch nicht schlachtreif sind. Die Wanderschaft ist ökonomisch sinnvoller als eine teure Stallüberwinterung und ökologisch nachhaltiger. Trächtige Schafe müssen jedoch meist im Stall zurückbleiben. Eine Geburt während des Zuges ist kaum zu bewältigen.



Ein Handwerk, das gelernt sein will: Tradition, Technologie, Herdenschutz
Damit das Wissen nicht verloren geht, gibt es seit 2009 die offizielle Schweizer Schafhirtenausbildung. In sechs Modulen lernen angehende Hirten alles Wichtige: Tiergesundheit, Weidepflege, rechtliche Grundlagen und Kommunikation mit Behörden. Die Ausbildung dauert mindestens drei Monate und schließt mit einer mündlichen Prüfung ab. Im Zentrum stehen nicht nur Herdenführung, sondern auch nachhaltige Weidenutzung, Krankheitsprävention, Geburtenkontrolle und Herdenschutz.
Effektiver Schutz der Herde ist wichtiger denn je. Neben traditionellen Mitteln wie Herdenglocken und Hütehunden kommen heute moderne Technologien zum Einsatz. GPS-Tracker orten einzelne Tiere, Drohnen helfen beim Auffinden von Nachzüglern. Dennoch bleibt der Mensch unverzichtbar.
Hütehunde spielen eine zentrale Rolle und müssen speziell ausgebildet werden. Instinkt, Ausdauer, Intelligenz und Arbeitswille sind Grundvoraussetzungen. Entscheidend ist die Beziehung zwischen Hund, Herde und Hirte. Der Hund muss sich der Herde zugehörig fühlen und gleichzeitig bedingungslos auf die Kommandos des Hirten hören. Besonders nachts ist dieser Zusammenhalt überlebenswichtig. In der Dunkelheit rückt die Herde eng zusammen. Nur wenn die Tiere beisammenbleiben, kann der Hund sie effektiv schützen. Entfernen sich einzelne Tiere zu weit, ist selbst der beste Hund machtlos. Je nach Herdengröße braucht es nachts mehrere Helfer zur Kontrolle, ein immenser Aufwand.



Ein Beruf mit Hürden
Wer als Wanderhirte durch die Schweiz ziehen will, benötigt je nach Kanton eine Genehmigung des Veterinäramts. Der Alltag ist weit entfernt von Romantik. Hunderte Tiere durch teils unwegsames Gelände zu führen, zu versorgen und zu schützen ist körperlich und mental extrem fordernd, bei jedem Wetter, Tag und Nacht. Auch die Landbesitzer müssen der Durchquerung ihres Geländes zustimmen. Nicht nur Wölfe sind eine große Gefahr, sondern auch Menschen: Unachtsame Autofahrer, enge Bergstraßen und rücksichtsloser Verkehr setzen Mensch und Tier ständigem Stress aus und Wanderer, die Weidegatter hinter sich nicht schließen sorgen für so manches verlorene Schaf.
Während der Wanderungen wohnen die Hirten in einfachen Hütten, minimal ausgestattet, mit Schlafplatz, Kochgelegenheit und improvisierten sanitären Anlagen. Komfort ist Nebensache. Wichtig sind die Tiere. Wer länger im Beruf bleibt, trägt sichtbare Spuren: müde Augen, tiefe Falten. Die Herausforderungen wachsen; die Herden müssen immer weiter hinauf, wo noch genügend Futter wächst. Immer weiter weg von der Zivilisation, näher an der Wildnis. Neben Berufshirten verbringen auch Freiwillige regelmäßig ihren Sommer auf der Alp. Raus aus dem hektischen Alltag, hinein in die Natur – eine entschleunigte, aber fordernde Lebensweise. Das Leben auf der Alp entspricht keineswegs einem typischen Entspannungurlaub, ist aber für viele ein wertvoller Kontrast zur modernen Welt und eine Arbeit die man gerne verrichtet.