Wie das Schellen-Ursli im Engadin mit Krach den Winter verjagt

Veröffentlicht von René

Guarda im Winter © Andrea Badrutt, Chur (2)

"Chalandamarz, chaland’avrigl, laschai las vachas our d’uigl!"

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Wer im Lateinunterricht gut aufgepasst hat, kann diesen Satz sicher übersetzen. Ich habe es zwar nicht, aber mit Französisch und Italienisch kommt man hier auch gut weiter, denn es handelt sich hierbei um Rätoromanisch, die vierte Amtssprache der Schweiz. Gesprochen wird sie nur noch in wenigen Regionen des Kantons Graubünden und dort meist nur noch als Umgangssprache. Die römische Besatzung in der Provinz "Raetia" liegt inzwischen schon einige Jahrhunderte zurück. Das Wort "Chalandamarz" stammt aber aus dieser Zeit. Im antiken Rom waren die "kalendae" jeweils der erste Tag eines Monats. Mit dem Wort "Chalandamarz" (lat.: "kalendae martiae") ist dementsprechend der 1. März gemeint, der Jahresanfang im Julianischen Kalender.

Die Kalenden galten als Feiertage, an denen man seine Schulden zu begleichen hatte. In den römischen Provinzen hatten am 1. März alle Jünglinge dem örtlichen Kommandanten ihre Untertänigkeit zu demonstrieren. In der Provinz Rätien, die sich von Graubünden bis über große Teile Bayerns erstreckte, prozessierten die Knaben mit großen Kuhglocken und Peitschen zum Kommandanten, um gleichzeitig, nach heidnischem Brauch, mit viel Krach die bösen Wintergeister zu vertreiben.


Makabre Scherze sind ein "Heidenspaß"

In den südlichen und südöstlichen Tälern Graubündens spielt der Chalandamarz-Brauch noch heute eine wichtige Rolle. Bis vor einigen Jahren ging es im Ort Sent sogar auch noch um die Schuldbegleichung. Zur Amtseinführung eines neuen Gemeindepräsidenten am 1. März musste der abtretende Gemeindepräsident eine Rede als Entschuldigung für seine Fehler während seiner Amtszeit halten. Unmittelbar nach seiner Rede köpften Jugendliche einen Schneemann, um symbolisch den Winter zu beenden. Die zweideutige Symbolik bezüglich des scheidenden Gemeindepräsidenten ist wohl eindeutig. Das Verbrennen eines Schneemannes, beziehungsweise einer Strohpuppe in der Gestalt eines Schneemannes, wie man es aus Zürich vom Sächsilüüte kennt, praktiziert man noch in Poschiavo und Mesocco als Winteraustrieb. Doch die am weitesten verbreitete Methode in Graubünden, den Winter zu verjagen, ist das Kuhglockengeläut zum Chalandamarz.

Traditionell ist der Chalandamarz ein reiner Knabenbrauch. Dadurch, dass viele Einwohner die abgelegenen Täler verlassen, herrscht aber vielerorts ein enormer Knabenmangel, sodass inzwischen auch Mädchen teilnehmen dürfen. Nur in Samedan und Zuoz dürfen noch ausschließlich Knaben mitmachen. Die ältesten Schüler des Dorfes organisieren das Fest. Jeder Knabe trägt die regionale Tracht. Dazu gehört ein blaues Sennenhemd, eine rote Zipfelmütze und ein rotes Halstuch. Ob die Kinder unter der Mütze einen Gehörschutz tragen, sieht man nicht. Es wäre jedenfalls äußerst empfehlenswert, denn jeder Knabe trägt eine mächtig laute Kuhglocke vor sich her. Mit diesen prozessieren sie durch das Dorf und machen möglichst viel Lärm. Die größte Glocke vorneweg, die kleinste hintenan. Auf dem Dorfplatz oder auf dem Schulhof messen sie sich dann im Peitschenknallen. Wer am längsten, am besten und am lautesten die Peitsche knallen lässt, gewinnt. Dann singen sie auf dem Dorfplatz gemeinsam Chalandamarzlieder. Aus einem solchen stammt auch die oben genannte Zeile.

"Chalandamarz, chaland’avrigl, laschai las vachas our d’uigl!"
("Erster März, erster April, lasst die Kühe aus dem Stall!")

Das Lied endet mit der Forderung:

"Scha’ns dais qualchosa, schi Dieu as benedescha,
e scha nun’s dais inguotta, schi’l luf as sbluotta!"
("Gebt ihr uns etwas, so segne euch Gott,
und wenn ihr uns nichts gebt, so fresse euch der Wolf!")

Peitschenknallen am Chalandamarz © Andrea Badrutt, Chur
Singende Kinder am Chalandamarz in Tarasp © Dominik Täuber

Dabei kommen dann auch die Mädchen ins Spiel. Sie dürfen mit einem kleinen Kesselchen bei den Zuschauern Spenden einsammeln. Zum Abschluss des Chalandamarz veranstalten sie einen Großen Tanz-Abend, an dem die Knaben dann die Mädchen um einen Tanz bitten. Das Dorf Lavin im Unterengadin veranstaltet den Chalandamarz sogar sechs Tage lang, um sicher zu gehen, dass der Winter auch wirklich verschwindet. Die Mutter des ältesten Schülers muss allerdings traditionsgemäß jeden Abend das Abendessen für alle Schüler (ca. 40) zubereiten. 2012 kam es zum Eklat, als diese Ehre plötzlich und völlig überraschend der Mutter einer zugezogenen Familie zuteil wurde. Seitdem dürfen die Mütter sich dazu auch Hilfe holen.

Mädchen und Frauen haben scheinbar auf den ersten Blick nur undankbare Rollen bei diesem Brauch, doch alle freuen sich gleichermaßen auf diesen fröhlichen Tag, der für sie einer der schönsten Tage des ganzen Jahres ist. Frauenfreundliche Änderungen der Tradition wurden und werden ständig getestet, konnten sich bisher jedoch nicht bewähren. In manchen Teilen des Festes wollen Mädchen auch mit großer Sicherheit eher nicht involviert sein. Im Oberhalbstein und im Val Müstair, wo die Knaben meist alleine in der Gegend umherzogen, waren für die Knaben früher die Schlägereien mit den Knaben der Nachbardörfer immer ein großes Highlight. Heute werden die Knaben dort von Lehrern beaufsichtigt. Deshalb müssen sie beim Prügeln nun auch Regeln einhalten. In Ftan hat der Chalandamarz noch ein anderes Gesicht. Eigentlich haben dort sogar fast alle Knaben ein anderes Gesicht. An Fasnachtsbräuchen orientiert, tragen sie gruselige Masken oder andere Verkleidungen. So ziehen sie durch das Dorf. Geprügelt wird dabei auch. Nur dass hier nicht die Knaben des Nachbardorfes geprügelt werden, sondern die Mädchen. Mit aufgeblasenen Schweinsblasen oder Luftballons an Stöcke gebunden jagen sie die Mädchen oder reiben ihnen Schnee ins Gesicht. Natürlich rangeln die Knaben sich auch untereinander. Warum die Mädchen an diesem Tag nicht einfach zu Hause bleiben? Weil auch sie sich auf diesen Tag freuen und sogar geprügelt werden wollen. Sonst könnten die Knaben sie schließlich nicht abends zum Tanz bitten, wenn sie sich nicht prügeln lassen.

Chalandamarz-Umzug in Scuol © Andrea Badrutt, Chur
Kinder mit Schellen am Chalandamarz in Guarda © Andrea Badrutt, Chur
Kinder am Chalandamarz in Guarda © Andrea Badrutt, Chur


Berühmtheit durch das "Schellen-Ursli"

So ruppig, wie es manchmal unter den Jungs zugeht, hat es so mancher Knabe auch nicht gerade leicht. Besonders der kleine Uorsin, genannt "Ursli", aus Guarda im Engadin hatte es schwer. Weil er die kleinste Glocke von allen hatte, musste er beim Chalandamarz-Umzug ganz am Schluss gehen. Die anderen Kinder lachten ihn wegen seines Glöckchens aus und Ursli war himmeltraurig. Da fiel ihm die große Glocke ein, die noch in der Sennhütte auf dem Maiensäss hing. Er stiehlt sich davon, um heimlich den gefährlichen Weg durch den tiefen Schnee, den Berg hinauf zur Hütte zu laufen und die große Glocke zu holen. Erschöpft trifft er dort ein, legt sich auf das Bett und schläft ein. Unterdessen sorgen sich nicht nur seine Eltern. Auch das ganze Dorf sucht nach ihm. Am nächsten Morgen kehrt er zurück. Alle bestaunen seine große Glocke und endlich darf er den Umzug anführen.

Das "Schellen-Ursli" ist nach Heidi das wohl bekannteste Kinderbuch der Schweiz. Selina Chönz veröffentlichte es bereits 1945 mit Illustrationen von Alois Carigiet. Die Geschichte eines Jungen, der nicht klein beigibt und zielstrebig den schweren Weg auf sich nimmt, um sich in der Gesellschaft zu behaupten, ist heute aktueller denn je. Zu Urslis Zeiten waren alle Bewohner der Täler ausschließlich Bauern und hatten alle ihre eigenen Glocken. Heute gibt es immer weniger Bauernfamilien dort, sodass sich die Kinder selbst eine Glocke besorgen müssen, indem sie sich eine von einem Bauern borgen. Wer da zuerst kommt, bekommt auch die größte Glocke. So stehen sie fast alle vor demselben Problem wie das Schellen-Ursli.

2015 wurde das Buch verfilmt und erreichte international einen neuen Höhepunkt in seiner Popularität. Es ist schließlich nicht nur irgendein Kinderbuch, sondern ein besonders gutes, liebevoll von Hand gestaltetes und pädagogisch wertvolles Kinderbuch. Deshalb legt das Engadin auch großen Wert auf familiengerechte, touristische Angebote. Das erste Highlight für Ursli-Fans dürfte in Guarda das alte, hübsch mit Sgraffiti verzierte Haus Nr. 51 sein. Es diente als Vorlage für Urslis Elternhaus. Doch nur wenige Meter die Dorfstraße hinauf, befindet sich auch noch das obligatorische "Schellen-Ursli-Museum" mit vielen historischen Gegenständen wie sie im Buch vorkommen und rekonstruierten Zimmern aus der Geschichte. Bei schönem Wetter empfiehlt sich der kindergeeignete (aber nicht kinderwagengeeignete) "Schellen-Ursli-Weg". Eine einfache Themenwanderung mit vielen Stationen zum Ursli und einer Feuerstelle zum Grillieren vor der rekonstruierten Maiensässhütte. Natürlich stößt man nicht nur in Guarda, sondern auch in der ganzen Region auf das Schellen-Ursli. Bei den Tourismus-Büros erhalten Kinder auch den "Schellen-Ursli-Pass", einen interaktiven Reiseführer mit Stempelkarte, der Kindern spielerisch die Highlights der Region vorstellt.

Urslis Elternhaus in Guarda © Paebi / CC BY-SA 3.0


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