In Bad Ragaz tanzt der Maibär

Veröffentlicht von Joelina

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Bad Ragaz, unscheinbar eingebettet zwischen den Ausläufern des Pizol und dem Rhein, ist bekannt als idyllischer Kurort im Sarganserland. Die charmante Kleinstadt im Kanton St. Gallen ist vor allem für ihre Thermalquellen berühmt. Doch auch in diesem ruhigen Erholungsort geht es bisweilen hoch her, etwa am ersten Maisonntag, wenn Bad Ragaz zum Schauplatz eines ganz besonderen Spektakels wird: dem Maibärenumzug.

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Ein lautes Spektakel

Es ist Vormittag am ersten Sonntag im Mai. Vor dem Dorfbad tummeln sich die Menschen, Einheimische und Schaulustige gleichermaßen. Die Luft ist erfüllt vom Duft frisch gegrillter Würste, der aus den Zelten des Trägervereins dringt. Kinder rennen aufgeregt zwischen den Erwachsenen umher, während inmitten des Platzes die Hauptdarsteller dieser Tradition errichtet werden. Schon seit 9 Uhr morgens werden die «Maibären» gemeinsam auf dem Vorplatz des Dorfbads aufgebaut.

Ab 11 Uhr bewirtet der Maibärenfonds Bad Ragaz die Akteure und Gäste mit Brot, Wurst und Getränken. Es ist nicht nur eine Stärkung, sondern auch eine erste Gelegenheit zum geselligen Austausch. Hier treffen sich alte Bekannte, Vereinsmitglieder, Besucher aus Nachbargemeinden. Das Dorf kommt zusammen.

Ebenfalls ab 11 Uhr werden die «Kässeli» ausgegeben, kleine Spardosen, die an die sogenannten «Bettler» verteilt werden. Die Bettler tun genau das, was ihr Name bereits verrät: Sie betteln. Mit ihren Klimperdosen ziehen sie während des Umzugs durch die Menge und bitten um einen Obolus zugunsten des Trägervereins oder anderer lokaler Organisationen. Dabei sorgen sie mit gewitzten Sprüchen, originellen Verkleidungen und schauspielerischem Einsatz stets auch für heitere Unterhaltung. Jeder ist herzlich eingeladen, am Maibärenumzug als Bettler teilzunehmen.

© maibaer.ch

Neben den Bettlern gibt es zudem die «Plümpner». Sie sorgen für ordentlich Krach während der Feierlichkeiten. Mit «Treicheln», riesigen Kuhglocken und anderen Lärminstrumenten geben sie während der Tänze der Maibären den Rhythmus vor. Ihr Auftritt ist eine akustische Wucht. Laut, durchdringend, und genau so gewollt, denn der Lärm gehört zum Brauch wie das Laub zum Maibären.

© maibaer.ch

Für einen gelungenen Maibärenumzug braucht es neben den Bettlern und Plümpnern natürlich auch den Hauptdarsteller des Spektakels: den Maibären. Entgegen erster Vermutungen handelt es sich dabei keineswegs um eine Bärenimitation. Der Maibär ist eine bis zu 4,5 Meter hohe, kegelförmige Fantasiefigur, die an eine Art «Waldgeist» erinnert. Seine Basis bildet ein hölzernes Gestell, bestehend aus schräg aneinandergelehnten Hölzern. Darauf wird meterweise Draht gespannt, der das Befestigungsgitter für die nächste Zutat bildet: massenhaft Laub. Das Laub, das am frühen Morgen gemeinsam gesammelt wurde, wird mit noch mehr Draht an dem Gerüst fixiert. Den krönenden Abschluss bringt der Präsident des Maibärenfonds an: Das Wappen der Gemeinde Bad Ragaz darf ebenso wenig fehlen wie bunte Kreppbänder, die den Maibären festlich schmücken. Damit der Maibär auch tanzen kann, schlüpft der größte und kräftigste Mann des Vereins unter das Gestell. Der Auserwählte darf in den nächsten drei Stunden seine Kraft und Ausdauer unter Beweis stellen – so ein Maibär wiegt immerhin zwischen 70 und 100 Kilogramm. Oft wird dieser Part mit einem gewissen Stolz getragen, denn nicht jeder kann behaupten, einen Maibären durch die Gassen getragen zu haben.

Insgesamt gehen drei Maibären an den Start. Um 13 Uhr treffen sie sich vor dem Dorfbad zum ersten gemeinsamen Tanz. Danach ziehen sie mit musikalischer Begleitung und dem Lärm der Plümpner durch die Gassen. Die Bettler unterhalten derweil das Publikum und sammeln Spenden für verschiedene Vereine. Die Stimmung ist ausgelassen, viele Zuschauer tanzen spontan mit, filmen die Umzüge oder feuern die Maibären an, wenn sie sich mühsam durch die Straßen wuchten.

© sarganserland-werdenberg.ch
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Lauter Beifall für...?

Immer wieder kehren die Maibären einzeln zum Dorfbadplatz zurück und tanzen dort lautstark und voller Freude. Für einen dritten und letzten Tanz versammeln sich schließlich noch einmal alle Maibären. Anschließend ziehen sie zur Taminabrücke, wo der größte der drei Maibären feierlich in den Bach geworfen wird - natürlich ohne seinen Träger. Dieser Moment ist das Highlight des Brauchs: Kinder und Erwachsene jubeln freudig und beklatschen… Ja, was wird denn beklatscht? Wozu dient der Brauch eigentlich?

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Sinn und Zweck dieses Spektakels bleiben im Unklaren. Der Brauch existiert seit mindestens 100 Jahren und hat seinen Ursprung vermutlich in heidnisch-germanischen Traditionen. Ende des 20. Jahrhunderts drohte der Tanz der Maibären auszusterben. Mangelndes Interesse und fehlende Organisation setzten dem Brauch beinahe ein Ende. Doch 1993 wurde er von einigen engagierten Männern wiederbelebt. Eine detaillierte Entwicklungsgeschichte oder gar Literatur zum Maibärenumzug gibt es kaum. Heute hält der Verein Maibärenfonds Bad Ragaz das mysteriöse Ritual am Leben. Die rund 40 Mitglieder zwischen 16 und 60 Jahren teilen eine gemeinsame Leidenschaft: die Liebe zur lokalen Tradition. Diese Begeisterung ist es, die den Brauch im 6.800-Einwohner-Dorf Bad Ragaz lebendig hält.

Zur Bedeutung des Maibärenumzugs existieren zumindest zwei Theorien: Zum einen könnte es sich um ein Fruchtbarkeitsritual handeln. Der Sturz des Maibären in den Fluss wäre demnach eine Opfergabe an die Dämonen der Tamina, um das Gedeihen der Vegetation im kommenden Jahr zu sichern und vor Hochwasser geschützt zu sein. Eine andere Vermutung sieht in dem Brauch ein Vertreibungsritual des Winters. Wie in vielen anderen Gemeinden der Schweiz wird mit viel Lärm der Winter ausgetrieben. Die Maibären stehen symbolisch für die kalte Jahreszeit und werden mit dem Wasserstrom weggeschickt. Was auch immer der Ursprung sein mag, der Maibärenumzug ist heute vor allem ein lebendiger Ausdruck der Gemeinschaft. Ein Fest, das Generationen vereint, den Frühling feiert und zeigt, dass alte Bräuche auch in der modernen Welt ihren festen Platz haben können.


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