Kurios, lustig, makaber? - «Gansabhauet» in Sursee

Veröffentlicht von Joelina


Dass die Schweiz mitunter urkomische und ganz eigentümliche Traditionen und Bräuche hat, überrascht wohl kaum. Einen Stein zu werfen, ist NationalsportSchneemannköpfe werden gesprengt und ledige Frauen werden schwarz angemalt und durch das Dorf gejagt. Kinder rauchen traditionsgemäß am «Funkensonntag» und «Stäcklibuebe» verwüsten Vorgärten. Doch manche Bräuche sind gar so kurios, dass man sie für unmöglich hält. Die einen freuen sich das ganze Jahr über auf diesen Tag, andere sind zutiefst schockiert und glauben, sie seien ins dunkelste Mittelalter zurückgereist. Ein solcher, für so manchen befremdlicher oder gar makaberer Brauch ist die «Gansabhauet» in Sursee, Kanton Luzern am 11. November, dem Martinstag.


Wer köpft die Gans?

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Dramatische Trommeln und Paukenschläge begleiten die merkwürdige, rot gekleidete Gestalt, die mit einer prunkvollen, goldenen Maske in Form einer Sonne und einem Säbel bewaffnet auf den Rathausplatz von Sursee schreitet. Die rund 3.000 Zuschauer warten belustigt, voll Vorfreude, aber auch gespannt, auf das was jetzt kommt. Der Maskierte «Henker» begibt sich zum Podest in der Mitte des Platzes.

© Bruno Meier, Sursee
© Bruno Meier, Sursee
© Bruno Meier, Sursee

Feierlich wird um 15 Uhr die erste der zwei bereits toten Gänse zur Platzmitte getragen. Über dem Podest wird sie an ihrem Kopf an einer Wäscheleine aufgehängt. Etwa 15 Minuen später macht sich der erste «Henker» bereit. Zunächst muss er ein großes Glas Rotwein trinken, damit es auch wirklich lustig wird. Die Augen werden ihm verbunden, dann kommt die goldene glänzende Sonnenmaske. Im wahrsten Sinne des Wortes ist ihm schwarz vor Augen, bevor er sich mehrfach um die eigene Achse drehen muss und ihm der Dragonersäbel gereicht wird. Vorsichtig tastend ist er bemüht, die hängende Gans und am besten ihren Hals wiederzufinden, den er mit einem einzigen Säbelhieb durchschlagen muss. Der erste Hieb fällt; meist jedoch noch nicht die Gans. Der maskierte Schläger wird vom Podest hinunter geführt und der nächste ist an der Reihe. Die Prozedur beginnt von vorn. Der rote Mantel, ein großes Glas Wein, die Augenbinde und die Sonnenmaske, drehen, drehen, drehen, tasten, schlagen. Wieder und wieder werden die Schläger zur Gans gebracht, bis einer von ihnen es endlich schafft. Er wird öffentlich demaskiert und darf die Martinsgans mit nach Hause nehmen und zubereiten.

© Bruno Meier, Sursee
© Bruno Meier, Sursee
© Bruno Meier, Sursee

Bis eine Gans enthauptet ist, braucht es üblicherweise mindestens fünf Hiebe. Manchmal können aber auch bis zu 30 Hiebe nötig sein. Sind Gänsehälse wirklich so robust? Es braucht sicherlich etwas mehr Wucht, als man sich zunächst vorstellen mag, jedoch sollte ein scharfer Säbel zweifelsohne hierfür ausreichen. Und genau da liegt der Haken: der Dragonersäbel, mit dem geschlagen wird, ist nicht scharf geschliffen, sondern bewusst stumpf. Neben der Maskerade, dem Schwindel und dem Wein soll der stumpfe Säbel es dem Schläger zusätzlich erschweren, der Martinsgans zu gewinnen.

© Bruno Meier, Sursee
© Bruno Meier, Sursee
© Bruno Meier, Sursee


Woher kommt diese merkwürdige Tradition?

Ein genauer Ursprung des Brauches ist nicht belegbar. Deutlich wird jedoch, dass die Gansabhauet einer festgelegten Zeremonie folgt, welche an eine Art Opferritual erinnert. Genau datieren lässt sich das erste Köpfen der Gänse nicht, eine grobe zeitliche Einordnung ist dennoch möglich. Im Spätmittelalter mussten für die Märkte Gänse zu Händlern und an Klöster geliefert werden. Symbolisch wurde dabei ein Gänseopfer vollzogen, entweder als Geschenk oder als Zehntabgabe. Der Martinstag war schon im Mittelalter ein feierlicher Anlass und Markttag. Eine Turmschrift aus dem Jahre 1858 gibt dabei Auskunft über die vorerst letzte Durchführung 1822.

Nach 1822 verschwand der Brauch über 40 Jahre lang von der Bildfläche. Erst 1863 wurde der Brauch wiederbelebt. 1880 erhielt die Zunft «Heini von Uri» den Organisationsauftrag. «Das gesellige Leben zu pflegen», wie es in den Zweckbestimmungen heißt, hat sich die Zunft damit zur Aufgabe gemacht. Bis heute hat sie die Organisationshoheit und erfüllt zeremonielle Funktionen wie das Kostümieren und Aufhängen der Gänse.

In den alten Niederschriften zum Gansabhauet wird immer wieder der Spektakelfaktor betont. Der ganze Brauch sprudelt geradezu vor theatralischen Elementen: Das dreimalige Drehen um die eigene Achse sorgte schon damals für eine sehr viel unterhaltsamere Ausführung des Säbelhiebs. Auch das später eingeführte Glas Wein lässt die Darbietung ungeschickter und belustigender für das Publikum erscheinen. Zusätzlich zu den unbeholfenen Versuchen, die Gans zu treffen, hat sich rund um den Brauch ein ergänzendes Rahmenprogramm entwickelt. Neben dem abendlichen Räbelichtli-Umzug mit Laternen, dem Duft von Gänsespeisen, welcher aus den umliegenden Gasthäusern durch die Gassen zieht, werden auch die Kinder berücksichtigt. Spiele wie Stangenklettern, Sackhüpfen«Chäszänne» («Grimassen») ziehen, halten die Jüngsten bei Laune. Schaulustige kamen so durch die Verköstigung, jahrmarktähnliche Wettbewerbe und die urkomische Darstellung vollumfänglich auf ihre Kosten. Für Zunftmitglieder, Behörden und Mitglieder des Organisationskomitees findet seit 1988 das offizielle Gansessen im Rathaus Sursee statt.

© Bruno Meier, Sursee
© Bruno Meier, Sursee
© Bruno Meier, Sursee
© Bruno Meier, Sursee
© Bruno Meier, Sursee
© Bruno Meier, Sursee


Tote Gänse zum Spaß köpfen - ist das noch zeitgemäß?

Wie so oft geraten alte Bräuche heutzutage in ein kritisches Licht. So auch die Gansabhauet. Tierschützer und Außenstehende äußern Zweifel und argumentieren, dass der Brauch hinsichtlich des modernen Moralverständnisses gegenüber Tieren veraltet und geschmacklos sei. Die zeitgemäße Wahrnehmung von Tieren und deren Empfinden lasse sich nur schwer mit der «Verstümmelung eines Tierkadavers zu Belustigungszwecken» vereinen. Auch die Konformität mit Tierschutzgesetzen wird hinterfragt. Mögliche Gesetzesverstöße und die «Schändung von Tierkadavern» hinter «vermeintlichen Traditionen» zu tarnen, wird von Gegnern des Brauches vorgeworfen.

Aus der lokalen Bevölkerung gebe es laut Erich Felber, Präsident der Komission «Gansabhauet», keine negativen Rückmeldungen, wie er gegenüber der Luzerner Zeitung beteuert. Engagierte argumentieren, dass hier keine Form von Tierquälerei stattfinden könne, da die Gänse bereits tot seien. Eine Ächtung der Tradition oder gar ein Verbot lehnen sie strikt ab. Schlussendlich sei in der Tierschutzdebatte die Bekämpfung von Massentierhaltung maßgeblich relevanter als der Kampf gegen lokale Traditionen.


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